Mein 20 Monate alter Sohn ist mein Wecker (er ist Frühaufsteher) und es ist nicht immer gleich, wie meine emotionale Innenwelt darauf reagiert, wenn er das tut. Aber heute Früh war es kein Thema. Ausgeglichen, ja gar fröhlich hüpfte ich aus dem Bett und wir verbrachten einen gemütlichen Morgen, bevor ich ihn zu meinen Eltern brachte, um arbeiten zu können.
Das Zusammenpacken seiner sieben Sachen flutschte auch, am Ende fehlten nur mehr seine Gummistiefel. Doch die fand ich nicht in seinem Schuhregal. Auch nirgend anderswo.
Das genügte und über meine sonnige Stimmung legte sich Wut. Ich konnte nichts dagegen tun, sie war einfach da, obwohl mein Verstand wusste, dass es nicht weiter schlimm war. Und mit der Emotion Wut kamen natürlich Gedanken wie: "Ich schaue immer, dass alles seinen Platz hat, sodass man es findet, investiere meine kostbare Zeit für Ordnung und am Ende finde ich doch wieder nichts.....". Das wiederum verstärkte die Emotion. Genauso ein innerer Anteil, der die Augen verdrehte, weil ich so überreagierte.
Wut, liebe Wut
Bis Mitte zwanzig konnte ich mit dieser Emotion nichts anfangen, ich spürte sie so selten.
Ich weiß noch, dass es für mich als sensibles Kind immer sehr unangenehm war, wenn meine Eltern wütend waren. Ich versuchte, es mit Händen und Füßen zu vermeiden.
An meinem Partner mochte ich es auch immer sehr, dass er anscheinend nie zornig war. Sein Fokus galt stets den Emotionen, die er in anderen verstärken wollte, zum Beispiel der Freude. Das war es auch, was er an anderen anziehend fand. Auch an mir?
In den vergangenen Jahren und insbesonders seit meiner Schwangerschaft mache ich oft Bekanntschaft mit der Wut. Ich würde sogar soweit gehen, sie nicht mehr nur als eine Bekanntschaft zu bezeichnen, sondern als meine (und somit unsere) Mitbewohnerin.
Wut als Grundgefühl
Die Wut gilt neben Freude, Angst und Traurigkeit als vierte Primäremotion. Man findet sie in allen Kulturen gleichermaßen und sie sind die Basis vieler weiterer Emotionen, die man als sekundäre Emotionen bezeichnen kann (zum Beispiel Stolz oder Enttäuschung).
In all den Jahren, in denen ich mich mit unserer Psyche und unseren Emotionen beschäftigt habe, lernte ich, dass Wut per se nicht schlecht ist. Sie ist eine sehr vitalisierende Kraft und es ist verheerend, wenn sie weg ist.
Jeder gesunde Mensch reagiert auf gewisse Bedingungen mit Wut. Zum Beispiel, wenn er oder jemand, den er mag, beleidigt wird.
Wie er die Wut nützt und zeigt, hängt von seiner Individualität ab. Und weil viele den Umgang damit nicht lernen konnten, ist Wut sehr verpönt. Dabei möchte sie nur persönliche Grenzen beschützen.
Ich gestehe, dass auch ich die Wut in mir oft ablehne. Weil auch ich erst am Üben bin und den Umgang mit ihr noch nicht immer gut beherrsche. Aber es führt am Ende kein Weg daran vorbei - besonders nicht als Mutter.
Laktationsaggression
Erwiesenermaßen haben Frauen bereits in der Schwangerschaft erhöhte Prolaktinwerte im Blut, um den Körper auf das Stillen vorzubereiten. Prolaktin gilt eigentlich als stressminderndes Hormon, scheint aber lt. WissenschaftlerInnen bei neugeborenen Müttern zu Aggression zu führen. Diese "Aggressionslust" betrifft auch Mütter, die das Fläschchen geben, Stillende aber besonders.
Aus der Tierwelt kennen wir diese Aggression. Wenn unsere Kühe früher Kälber bekamen, war immer besondere Vorsicht geboten.
Bei Müttern ist die Bereitschaft, in bedrohlichen Situationen aggressiv zu reagieren, deutlich erhöht. Wobei es sich um eine defensive und um keine aktive Form der Aggression handelt. Sie ist Reaktion zum Schutz von uns und unseren Kindern.
(Sehr interessant fand ich auch die Forschungsergebnisse, die ergaben, dass neugeborene Mütter in Bezug auf ihren Partner in den ersten Monaten nach der Geburt einen Rückgang der positiven Gefühle erleben.)
In Urzeiten schützte die Laktationsaggression vor lebensbedrohlichen Angriffen.
Heute möchte die Wut in der ersten und so vulnerablen Zeit der Mutterschaft vor anderem schützen.
Heiliger Mutterzorn
Als "heiliger Zorn" wird ein Ärger oder Zorn bezeichnet, der sich für eine gerechte Sache einsetzt. Es ist eine beflügelnde, energetisierende Emotion, die Missstände erkennt und sie beseitigen möchte.
Feministinnen und Anti-PatriarchatssprecherInnen fand ich vor meinem Mutterwerden immer viel zu übertrieben und aggressiv.
Ich dachte, ihre Aggression wäre Zeugnis eines persönlichen Mangels.
Heute stehe ich selber in den Reihen dieser Menschen, denn erst nun kann ich die zum Himmel stinkenden Missstände sehen und fühlen.
Egal welche Werte nun vor der Wahl wieder postuliert werden, in Wahrheit wird ein gesundes Familienheim politisch in Österreich nicht unterstützt. Kapitalistische Werte stehen darüber - und das macht mich richtig wütend!
Und dieser heilige Zorn brachte mich dazu, mich auf die Begleitung von schwangeren Frauen zu spezialisieren. Er brachte mich dazu, viele Texte dieses Blogs zu schreiben.
Wäre die Wut nicht, würden wir Mütter in unserer Freizeit nichts zum Besseren verändern wollen, sondern nur unsere Wunden lecken und Schlaf nachholen.
[Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass es nicht nur leiblichen Müttern so geht. Heiliger Zorn entsteht auch in Vätern, nicht leiblichen Erziehungsberechtigten
usw.
Er hat auch nicht nur mit Hormonen zutun - wobei es in manchen Urvölkern Vätern möglich ist zu stillen.]
Wie wird Zorn heilig?
Mir ist bewusst, dass Aggressionsbereitschaft auch sehr viel Schaden in Beziehungen anrichten kann. Wichtig ist, einen gesunden Umgang mit Wut zu lernen.
Meine Überlegungen dazu sind:
- Ich glaube, wichtig ist, dass wir aufhören, uns für Wut zu schämen und beginnen, darüber zu sprechen. Uns mit anderen austauschen darüber.
- Wir dürfen uns Hilfe holen, sowohl bei der Kinderbetreuung, als auch im Umgang mit Wut.
- Die Wut zeigt uns unsere Grenzen auf, deshalb dürfen wir ihre Sprache verstehen und unsere Bedürfnisse kennen lernen.
- Wir dürfen lernen, uns MIT der Wut anzunehmen, statt gegen sie anzukämpfen.
- Wir dürfen erkunden, welche Werte uns wichtig (geworden) sind. Die Wut erzählt uns viel darüber.
- Üben, üben, üben: Die Wut hat nicht das Kommando über uns. Wir sind der Dirigent und dürfen selber entscheiden, wie wir die Wut nutzen. Das ist ein Übungsprozess und wird nicht jedes Mal
gelingen.
Aber auch das ist menschlich. - Verletzt man jemanden in Wut, darf man die Courage entwickeln, um Vergebung zu bitten. Auch das ist menschlich.
- Wut erzeugt Stresshormone im Körper (& umgekehrt). Diese darf man körperlich abbauen z.B. durch lautes Schreien in einen Polster oder beim alleinigen Autofahren, laufen gehen, sprinten, boxen, auf eine Matratze schlagen, einen Wut-Ausruckstanz tanzen etc.
- Wir dürfen den Mythos der stets geduldigen und liebevollen Mutter aus unseren Köpfen bringen.
Wut ist - neben Liebe - das am häufigsten mit Müttern in Verbindung gebrachte Gefühl. - Wir sind Vorbild für unsere Kinder, sie lernen am besten an unserem Beispiel. Wie möchten wir, dass sie mit Wut umgehen?
- Es ist wichtig, die Waage zu finden: Manchmal ist es gut, die Wutemotionen mit dem Partner zu teilen, manchmal darf man es sich auch alleine ausmachen.
- Anhaltende Wut kann ein Zeichen dafür sein, dass man dauerhaft im Sympathischen Teil unseres Nervensystems alias gestresst sind. Dann lautet der Rat der Wut: Versuche mehr in den ventralen Vagusteil deines Nervensystems zu kommen, der für Entspannung und Verbundenheit sorgt. (Polyvagaltheorie)
- Zum Regulieren des Nervensystems und der Wut kann ich die S-O-S-Übungen von der Traumatherapeutin Kati Bohnet sehr empfehlen; Ebenso die EFT-Technik.
Empfehlungen zum Vertiefen:
Buch: "Mythos Mutterinstinkt" von Annika Rösler und Evelyn Höllrigl Tschaiker
Buch: "Jetzt reicht´s mir aber" von Robert Betz
Buch: "Bin ich traumatisiert?" von Verena König zum Thema Polyvagaltheorie