Alles, nur nicht gleichzeitig

Etwas, das sich Gott sein Dank nie aufgehört hat, ist, dass sich sechs meiner ehemaligen Schulkolleginnen aus der landwirtschaftlichen Fachschule und ich uns noch immer halbwegs regelmäßig treffen, um uns auszutauschen. Wir waren schon damals eine coole Gang, nicht zuletzt das Internat hat uns zusammengeschweißt und das, obwohl (oder vielleicht weil) wir uns charakterlich immer schon sehr unterschieden.


Während der Schulzeit beschäftigten uns vor allem Themen wie Fortgehen, Burschen, erste Beziehungserfahrungen. Mit zunehmenden Alter tischte man neben einem perfekt vorbereiteten Brunch meistens häusliche Themen auf: Kinder, Ehe, Hausbau.
Für mich war das oft fast zu viel und anstatt dass es Werbung für ein häuslicheres Leben war, aktivierte es bei mir jedes Mal auf´s Neue andere Sehnsüchte: Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstentfaltung. Die Botschaft, dass jemand für den Hausbau sparte, brachte mich dazu, den „Wild Atlantic Way“ an der irischen Küste zu befahren. Ein wenig wie Sissi, bevor sie Franz kennenlernte.

 

Es war nicht so, dass ich ungebunden war – seit ich 15 Jahre alt bin, bin ich fast überlappend in Beziehungen – doch etwas machte mir anscheinend Angst. Natürlich wollte ich auch eines Tages eine eigene Familie, doch nie „jetzt“.

Viel Selbsterfahrung und Reflexion später, glaube ich, dass es an der tiefen Überzeugung lag, dass Kinderkriegen (oder auch ein fetter Hauskredit) das Ende des eigenen Lebens markiere. Vorher wollte ich noch so viel anderes. Anderes tun, erleben, sein, sehen, bewirken. Etwas riskieren. Fehler machen und meine Existenz erschüttern. Einfach alles!

 

Meine Mutter meinte öfters, im nächsten Leben würde sie erst mit 30 das erste Kind kriegen (und Bergbäurin werden ;).
Und siehe da – nun bin ich 30 und wurde zu meinem Glück gezwungen, indem ich ungeplant schwanger wurde. Zum jetzigen Zeitpunkt könnte ich mir nichts Wundervolleres vorstellen, doch in den ersten Wochen meiner Schwangerschaft zeigten sich mir meine Glaubenssätze und die damit verbundenen Ängste sehr deutlich. Da war sie, die existenzielle Erschütterung, die ich mir gewünscht hatte. Welche Ironie! War es das Ende von „alles“?

 

Einige Prozessschritte später stieß ich diesbezüglich auf eine weise Antwort und damit einen heilsamen Perspektivenwechsel. Und die brachte mir nichts Geringeres als die Netflix-Serie „Sex/Life“.

Ich konnte noch immer alles haben, wenn auch nicht gleichzeitig.

Und eigentlich wollte ich gar nicht alles, sondern eine feine, bewusste Auswahl von allem. Zu dieser feinen Auswahl zählt auf jeden Fall eine eigene Familie. Es zählte meine Jugend, in der ich mich fortgeh- und Jugendfehler-technisch sehr ausgelebt habe, es zählten die vielen ausgelassen und intimen Stunden mit meinen Freunden, die Lern- und Ausbildungsphasen, die vielen Stunden beim Musikverein, die verändernden Reisen, die Zeit als Krankenschwester und die meiner Unternehmensgründung.

 

Beim Nachsinnen wird einem bewusst, dass man nie alles gleichzeitig gelebt hat und dass sich immer alles auch wieder weiterentwickelt. Veränderung als die einzige Konstante, wie es schon Heraklit schrieb.

 

Natürlich läuten Kinder den Beginn einer neuen Zeit ein. Eine Zeit, in der der Schwerpunkt oft auf ihren Bedürfnissen statt den eigenen liegt und zum Wohle der Familie gehandelt wird. Aber selbst das verändert sich wieder. Betrachte ich meine Eltern, die mit 10 Kindern den Inbegriff von Familie lebten, so sehe ich nun zwei Menschen in einer völlig neuen Lebensphase. Sie ziehen gerade das erste Mal zusammen um, nur sie beide, und entdecken sowohl ihre Beziehung, als auch ihre eigenen Interessen neu wieder. Von Langlaufwochen und Bergwallfahrten, Angelreisen im Norden, Motorradtouren, über Konzertbesuche, raffinierte Kochversuche und das Vertiefen in persönlichkeits-entwickelnder Literatur ist alles dabei.


Nein, nicht alles! Aber eine feine Auswahl von allem.

"Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist."
(Viktor Frankl)

 

Am Wild Atlantiv Way in Irland
Am Wild Atlantiv Way in Irland

(Dieser Text stammt aus meinen persönlichen Schwangerschaftsaufzeichnungen aus dem Jahre 2022.)