Alle Farben der Palette

 

Manchmal hab ich das Gefühl, mit mir stimme etwas nicht.

Wenn mich Leute fragen, wie es mir in der Schwangerschaft gehe und ich nicht mit „Gut.“, sondern mit „Verschieden.“ antworte, reagieren viele mit einem verständnislosen oder mitleidigen Blick.

Ich habe mir am Anfang meiner Schwangerschaft vorgenommen, möglichst ehrlich darüber zu sprechen. Aber das ist gar nicht immer so einfach, weil gesellschaftlich erwartet wird, dass man einfach mit „Gut.“ antwortet.

Tatsächlich ging es mir bis jetzt aber nicht immer gut. Auch. Manchmal sogar sehr! Aber ich habe bis jetzt (Ende des zweiten Trimesters) auch schon ziemlich herausfordernde Momente und Phasen erlebt. Was ich Status Quo auch gar nicht unbedingt anders erlebt haben möchte. Ich bin der Meinung, dass ein buntes und lebendiges Bild aller Farben der Palette bedarf. Sicher gefallen manche Farben besser und sind dem Auge zuträglicher. Aber auch das verändert sich im Laufe eines Lebens und man wird in der Bewertung demütiger.

Und doch passiert es mir manchmal, dass Gespräche darüber mit bestimmten Personen Unsicherheit in mir auslösen. Nehme ich das alles tatsächlich so anders wahr als andere?

Wie schaffen es die schwangeren Frauen, die Vollzeit arbeiten gehen, zuhause den Laden schupfen und dann auch noch Freizeitaktivitäten, Vereinsleben etc. unterbringen? Zum Teil ziehen sie dies bis zum Mutterschutz durch. Für mich unvorstellbar.

 

Ich sprach darüber unlängst mit der Therapeutin meines Vertrauens.

Sie machte mir deutlich, wie viele Frauen postpartal, also nach der Geburt ihres Kindes, an Depressionen oder starken depressiven Episoden leiden, weil sie das „Angebot“ der Schwangerschaft nicht annahmen: Das der Zäsur.

Dies war ein Phänomen unserer westlichen Breiten, wo Werte wie Wirtschaftlichkeit, Geld, Leistung und Macht unser Leben prägen. Es war normal, immer die gleiche Leistung zu vollbringen. Eine Ausnahme stellte maximal eine Krankheit dar.

 

In anderen Kulturen gilt Schwangerschaft und Mutterwerden als eine besondere, „andere“ Zeit, z.B. bei den Navajo Indianern. Werdende Mütter werden hier geehrt, gefeiert und gesegnet.

Auch bei uns zeigt sich die Sehnsucht danach, indem sogenannte „Blessingway“-Feiern für Schwangere veranstaltet werden, um ihnen genau das zukommen zu lassen: Aufmerksamkeit und Wertschätzung.

 

Zurück zu meiner Therapeutin.

Nicht nur die Schwangerschaft war laut ihr eine Zeit, die eigentlich des Sich-Zurücknehmens, Innehaltens, Reflektierens und Entwickelns bedurfte. Auch Frauen im Wechsel betraf es.

Ganz naturgemäß verursachten die Hormone dies.

Leider lernt unsere Leistungs-Gesellschaft zum Teil noch immer nicht daraus, wenn das Resultat der Ignoranz Depressionen, Erschöpfungszustände, Burnouts oder einfach Unglück sind.

Wir laufen und laufen. Davon?

Einer meiner früheren Mentoren pflegte, um uns den sokratischen Dialog näherzubringen, zu fragen: „Bitte helfen Sie mir, Sie zu verstehen. Sie fahren mit 180 km/h in Richtung einer Mauer. Was tun Sie da?“

 

Ja, was tun wir da eigentlich?!

Ich denke, viele Frauen haben das Gefühl, sie müssten. So wurden wir erzogen, so erwartet es die Gesellschaft. Mit an Board oft so der Glaube, dies wäre das beste für einen (und die Gesellschaft).

Aber der Preis ist hoch. Sie nehmen damit – mehr oder weniger bewusst – in Kauf, das wehrlose Kind in ihrem Bauch mit all dem Druck und Stress zu prägen.

Seit ich DDr. Johannes Hubers Buch „Die Anatomie des Schicksals“ gelesen habe, kann ich nicht mehr umhin, den Einfluss von Stress während der Schwangerschaft als eines der größten Lebensgifte für das Kind zu betrachten. Viele der Auswirkungen zeigen sich erst, wenn das Kind die 30-Jahres-Marke überschritten hat.

Dies schildert Huber nicht anhand von irgendwelchen halbseidenen Thesen, sondern aus entwicklungsbiologischer, epigenetischer und reproduktionsmedizinischer Sicht.

 

Und was ist mit der Frau selbst?

Worum geht es im Leben eigentlich? Natürlich obliegt die Be- und Verantwortung dieser Frage jedem selbst und richtet sich nach persönlichen Werten. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir es verdient haben, nicht nur zu laufen, sondern uns auch immer wieder ausrichten zu dürfen, ob uns denn der aktuelle Lebensstil wirklich noch glücklich macht. Nämlich wirklich.

Und wir haben es verdient, eine Schwangerschaft genießen zu können, wenn es diese gerade erlaubt.

Wenn es unser Stamm schon nicht tut, dann müssen wir selbst es tun: uns ehren, feiern und segnen.

 

(Dieser Text stammt aus meinen persönlichen Schwangerschaftsaufzeichnungen aus dem Jahre 2022.)