Der inneren Größe Raum geben

Eine Freundin, die vor etwa einem Jahr von ihrem Ehemann verlassen wurde, schrieb mir, dass das Alleinsein viele Vorteile mit sich bringe. Sie dürfe nun zum Beispiel so sein, wie sie ist. Sie könne nun ihrer inneren Größe Raum geben. 

Alleine anhand der Antwort erkennt man, dass es sich um eine Frau mit Größe handelt, finde ich.

 

Stürmisches Wetter ließ mich gestern nicht gleich einschlafen. Und so durfte ich noch länger über ihre Worte nachdenken.

Bevor ich an diesem Abend meine Leselampe ausschaltete, hatte ich "Das Leben ist ein Fest" von Claire Berest ausgelesen. Es handelt sich dabei um das Leben Frida Kahlo´s in Romanform.

Schon lange hatte kein Buch mehr so viele Emotionen in mir ausgelöst! Ich staunte, ich war wütend, fasziniert, erschöpft, irritiert, überfordert.

Kennt ihr das vielleicht? Wenn ein Buch oder Film extrem gut und mitreißend ist, ihr es/ihn wahrscheinlich aber kein zweites Mal ansehen werdet, weil der emotionale Prozess dabei so aufwühlend ist. Aber ihr empfehlt das Buch oder den Film aus voller Überzeugung weiter.

"Das Leben ist ein Fest" ist so ein Buch für mich.

 

Viele meiner Emotionen galten der fast obsessiven Liebe, die Frida Kahlo ihrem Mann und Künstlerkollegen Diego Rivera gegenüber empfand. Um zu zitieren: "Die Taube und der Elefant". 

Ich hielt es fast nicht aus. 

Rivera tat, was er wollte: Verführte reihenweise Frauen (darunter auch Fridas Schwester), war launisch, provozierte mit seinen politischen Gemälden auf riesigen Fassaden und brachte sie damit beide in Gefahr, beleidigte sie,.....- & war dabei nicht einmal fesch.

Frida folgte ihm überkontinental, unterstützte ihn blind, brachte ihm schön dekorierte Picknickkörbe zur Arbeit und gab sich ihm als Nachspeise hin, küsste ihm den Bauch, sodass er übervoll mit roten Kussmündern übersät war. Ihre Gedanken drehten sich fast ausschließlich um ihn. Ihre eigene Malerei betrachtete sie als Hobby, niemals könnte sie wie Diego sein... - und das bei all den Schmerzen, die sie seit ihrem tragischen Busunfall mit sich trug.

 

Frida Kahlo und Diego Rivera
Frida Kahlo und Diego Rivera

 

Fairness halber muss man dazu sagen, dass Rivera nie unehrlich war und er ihre Künstlerkarriere eigentlich vorantreiben wollte.

Trotzdem: AAAAHHHH....

Meine Wut galt abwechselnd Diego Rivera, Frida Kahlo, mir und allen Frauen und Männern dieser Welt.

 

In der ersten Psychologiestunde an der Krankenpflegeschule lernten wir: Was mich trifft, betrifft mich.

Mir ist natürlich klar, dass diese Themen nicht umsonst soviel Emotion in mir auslösen. Allein schon, dass ich über Frida Kahlo sehr oft mit Vornamen schreibe und bei Diego Rivera eher seinen Nachnamen verwende, zeigt schon meine Identifizierung auf. 

Und doch glaube ich auch, dass es sich um ein kollektives Frauenthema handelt, das uns alle mehr oder weniger betrifft.

 

Liegt es in der Natur von Frauen, dass sie sich ihrem Partner anpassen?

Warum meinte meine eingangs erwähnte Freundin, dass sie erst im Alleinsein sie selber sein und ihrer Größe Raum geben dürfe/könne?

 

Die weibliche Energie Yin steht u.a. für Hingabe. Es liegt in der weiblichen Natur, hingebungsvoll zu sein. 

Spannend für mich ist, dass das englische Wort "surrender" zwei deutsche Übersetzungen hat: einerseits hingeben, andererseits aufgeben

Ich denke nicht, dass "hingeben" und "aufgeben" dasselbe ist. Doch wir verwechseln es zu oft, vielleicht auch, weil wir es nie anders gelernt oder gesehen haben.

 

Wir tun es freiwillig. Und doch kommt bei vielen Frauen gerade nach einer Trennung Wut hoch, weil sie das Gefühl haben, sie hätten immer mehr gegeben, sich aufgegeben. Ist es dann wirklich freiwillig?!

Ich denke, es ist erst dann frei-willig, wenn einem bewusst ist, was man tut. Erst Bewusstsein macht frei.

Leider können wir uns nicht der Verantwortung entziehen, selber für unsere Bewusstseinsentwicklung zu sorgen. 

 

Bewusstsein.

Wie so oft ist dies die Lösung - oder zumindest der Beginn der Lösung. 

 

Bewusstsein schafft Raum zwischen Reiz und Reaktion. Wir können uns dann entscheiden, immer wieder auf´s Neue, wie wir agieren und reagieren wollen. Anpassen? Hingeben? Kontern? Den eigenen Weg gehen? Sich klein oder groß machen? 

Jede Situation erfordert eine andere Antwort. 

Wieder war es Viktor Frankl, der gesagt hat, der Sinn des Augenblicks ändert sich nicht nur von Person zu Person gemäß ihrer Einzigartigkeit, sondern auch von Situation zu Situation, Minute für Minute. 

 

Apropos Sinn: 

Vielleicht fehlt Frauen auch manchmal noch das Bewusstsein um ihre individuelle Aufgabe im Leben, ihren Lebenssinn - und so ernennen sie ihre Beziehung und die Unterstützung des Mannes als ihre Aufgabe und später dasselbe bei den Kindern. 

Es ist bequem, im Nachhinein zu meinen, man hätte nicht ausgekonnt, da war keine Zeit und Möglichkeit für die Entfaltung der eigenen Größe.

 

Ein Freund sagte mir mal, das attraktivste an einer Frau sei für ihn, wenn sie wüsste, was ihr wichtig wäre und was ihr taugt. 

Nicht, dass das der Grund sein sollte (um für einen Mann attraktiv zu sein). Aber zur Verdeutlichung, wie verquer das ganze manchmal läuft.

 

Ich denke, es geht darum, für sich selbst attraktiv zu bleiben. Auch dem Leben die Chance zu geben, dass es attraktiv bleibt.

 

So möchte ich hier am Schluss ganz einfach Nomen statt Verben verwenden -

statt hingeben und aufgeben: Hingabe und Aufgabe!

 

Das Leben ist ein Fest!

 

 

Tango-Szene aus dem Film "Frida"

Mein Arbeitsplatz beim Schreiben
Mein Arbeitsplatz beim Schreiben