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Wir, die Geschichtenliebhaber

Gab es für dich als Kind eine Lieblingsgeschichte? Eine, die du dir immer und immer wieder anhören oder lesen hättest können? Eine, die du in deinem Kopf weiterspannst? Eine, die als riesiges imaginäres Spiel ausgebaut werden konnte?

 

Das Geheimnis einer solchen Geschichte ist, dass sie uns emotional mitreißt und wir mitten drin sind. Die Geschichte wird lebendig - manchmal lebendiger als das reale Leben.

Ein großartiges Phänomen!

 

Wenn wir "erwachsen" werden, zumindest älter, funktioniert dieses Prinzip noch genauso. 

Doch die Geschichten, die wir uns wieder und wieder erzählen, die, die lebendiger als das reale Leben werden und die, die wir im Kopf weiterspinnen, sind dann oftmals keine erhebenden, magischen mehr.

Vielmehr erzählen wir uns täglich, fast mantraartig - natürlich hauptsächlich unbewusst - Geschichten über uns selber, wie:

-"Ich kann nicht singen/malen/tanzen/rechnen/schreiben"

-"Ich bin langweilig/dumm/ängstlich/schwach/unsportlich/hässlich/zu dick"

-"Ich war damals Schuld"

-"Das Leben meint es nicht gut mit mir. Es ist ein gefährlicher Ort."

-"Ich kann nicht vor Leuten sprechen"

-"Meine Eltern haben mich nie so geliebt wie meinen Bruder."

-"Das wird soundso nichts"

-"Niemand kennt mich wirklich"

-"Ich kann mein Herz nicht mehr öffnen"

-"Ich habe viel zu viel Angst vor..."

...und viele, viele mehr.

 

Ich möchte nicht sagen, dass wir ausschließlich negative Geschichten in uns tragen. Ich denke, in uns sind immer - egal worum es sich handelt - positive, wie auch negative Beispiele zu finden.

Jedoch kippt die Waage, was unsere inneren Geschichten betrifft, sehr häufig eher in die Richtung der niederdrückenden, das Leben behindernden. 

Wahrscheinlich habt ihr schon erkannt, dass Geschichten hierbei ein Synonym für Glaubenssätze oder innere Mantras sind.

 

Was denkst du über dich? Über das Leben? Über den Mann an deiner Seite, deine Familie, Freunde, Kollegen, die Regierung ...?

Große Fragen, ja ich weiß. 

Kaum jemand von euch wird sie sich an dieser Stelle beantworten. Aber vielleicht begleiten sie euch, weil sie euch neugierig machen.

Unbewusst haben wir schon alle eine Antwort darauf. Sie basiert auf der Summe unserer Epigenetik und Erfahrungen, unseres Wesens, der Dinge, die uns gesagt werden, unserer Reflexionsfähigkeit u.v.m.

Ich glaube auch nicht, dass man diese Antworten auf einen Schlag künstlich überarbeiten kann/muss/soll.

Vielmehr glaube ich, dass uns das Leben zur gegebenen Zeit fragt, ob unsere Antwort noch stimmt oder anders ausgedrückt: unsere Geschichten noch stimmen.

 

So ist es zumindest bei mir. 

Es begann damit, dass ich mir ein Interview einer Mentaltrainerin angehört habe. Ich fuhr gerade von der Arbeit nach Hause, eine Arbeit, die mich sehr auslaugte und desillusionierte. Ich hörte gar nicht richtig zu, war erschöpft und mein Kopf war voll. 

Doch als sie davon sprach, dass wir uns immer und immer wieder die selben Geschichten über uns selbst erzählen und dann gar nicht mehr überprüfen, ob diese überhaupt noch stimmen, war ich dabei. 

Ich musste in den Tagen darauf immer wieder darüber nachdenken. 

Mir wurden meine Geschichten bewusster. 

Plötzlich bekam ich Angst. Was, wenn ich schon längst ein Schmetterling sein könnte, doch ich noch glaube, eine Raupe zu sein & dadurch nicht fliege? Meine Flugtage wären gezählt...Leben ist endlich.

Ich meldete mich sogleich beim Mentaltrainerkurs an. Vielleicht fand ich ja dort eine Anleitung zum Geschichten-Umschreiben?

 

Einfach im Kurs drinsitzen und sich berieseln lassen? Niemals! Nicht mit diesem Referenten. 

Er forderte uns namentlich heraus, zu verschiedenen Themen Stellung zu beziehen. Und natürlich standen 2 Referate für jeden von uns an. 

Und da wurde sie mir bewusst, diese eine Geschichte, die ich mir nachhaltigst erzähle: Ich kann nicht vor einer Gruppe von Leuten sprechen. 

Eine Person geht gut. 2 auch. 

Aber eine Gruppe?!

 

Dass es eine Geschichte war, die ich mir erzählte, erkannte ich daran, dass die Rückmeldungen meist recht positiv ausfielen. 

Natürlich fiel dem einen oder anderen auf, dass das eine oder andere Mal mein Gesicht errötete, aber es stand nicht im Verhältnis zu meiner inneren Wahrnehmung, die mir vorgaukelte, alle beäugten mich mitleidig, weil ich mich so daneben benahm. 

Ich begann zu überlegen. 

Objektiv betrachtet verliefen schon einige solche Rede-Situationen in der Vergangenheit recht gut. Ja, klar war ich nervös. Aber so geht es doch nicht nur mir. Sich mit "den besten" - denen, die die Bühne lieben - zu vergleichen, wäre vermessen.

 

Die Geschichte stammte noch, wie so viele Geschichten, aus meiner Kinderzeit. Ich war ein sehr introvertiertes, schüchternes und ruhiges Mädchen, das es -bei 9 Geschwistern-  nicht gewohnt war, im Mittelpunkt zu stehen.

Eines, das sogar glaubte, es wäre schlecht/unfair/selbstsüchtig, im Mittelpunkt stehen zu wollen. 

Im Laufe der Schulzeit lernte ich viele Kinder kennen, die kein Problem hatten, vor der Klasse zu stehen. Manche musste man fast von der "Bühne" hieven, so wohl fühlten sie sich da.

Im Kontrast zu ihnen fühlte ich mich stets schwach, was dieses Thema betraf. 

Folglich erzählte ich mir, ich könne einfach nicht vor einer  Gruppe stehen und sprechen. 

Und dieses Mantra wiederholte ich fast autosuggestiv in völliger Überzeugung. 

Ich dachte, dass man gute Referenten daran misst, dass sie keine Angst/Nervosität verspürten. 

 

Heute weiß man, dass unser Unterbewusstsein nicht zwischen Realität und Gedanken unterscheidet. Alles, was wir ihm erzählen, speichert es als Erfahrung ab. Eine sich immer wiederholende Geschichte ist natürlich besonders stark abgespeichert. 

Und unser Unterbewusstsein wirkt wie ein Filter, der unsere Wahrnehmung selektiert. Wir nehmen nur noch wahr, was die Geschichte bestätigt.

Das zitternde Knie, die vergessenen Inhalte, die Differenz zur Generalprobe, das glühende Gesicht - aber nicht die gespannte, jubelnde Gruppe, die einem "fette Props" gibt, weil es ihnen besonders gefallen hat.

 

Aber was tun?

Einmal mehr ist die Lösung Bewusstsein.

Nur diese eine Instanz überzeugt das Unterbewusstsein. 

Uns muss a) die Geschichte bewusst werden,

b) unsere selektive Wahrnehmung,

c) die Realität und

d) die Antwort auf die Frage: Was will ich wirklich? Welche Geschichte darf's sein?

 

Dann braucht es Geduld. Denn ein tiefer Glaubenssatz ist nicht von heute auf morgen aufgehebelt, eine Geschichte nicht so schnell umgeschrieben. Es bedarf Training und passender Erfahrung. Und zwischendurch wird es vielleicht Rückschläge geben. Damit darf man rechnen. 

 

In meinem Fall bedarf es auch einer "Einstellungsmodulation" (nach V. Frankl), also einer Anpassung der eigenen Einstellung.

Um gut zu referieren, muss man nicht furchtlos sein.

Im Gegenteil. Betrachte ich meine Vorbilder, Menschen, denen ich gerne zuhöre und die mich berühren, dann sind das oft solche, 

die nicht ohne Angst/Nervosität auf die Bühne gehen, sondern trotz.

Sie brennen für etwas, fühlen sich berufen oder möchten wachsen. Es sind selten Leute, denen es darum geht, selber im Mittelpunkt zu stehen. Sie rücken etwas anderes in's Licht. Transzendieren sich. 

 

Und am Ende des Tages hoffe ich, dass sich jemand aus meinem inneren Team erhebt und in die Runde fragt: "Worum gehtsn wirklich?! Scheiß di ned au, geht jo eh um nix!"

 

 

 

"Erst wenn das Samenkorn nicht mehr daran festhält, zu bleiben, was es ist, kann es werden, was es sein soll,

eine Pflanze."

(Kurt Tepperwein)

 

You are already more than enough.

Danke, Meva!

"Unsere Geschichten anzunehmen, auch die schwierigen, verleiht uns die Macht, sie besser zu Ende zu schreiben."

(Brene Brown)