Vier Jahreszeiten

1725 veröffentlichte Antonio Vivaldi seine Sammlung Opus 8 mit seinem wohl bekanntesten Werk: Le quattro stagioni. Es handelt sich um Programmmusik: 4 Konzerte, wobei jedes eine Jahreszeit porträtiert. Sanfte Winde, heftige Stürme und Gewitter sind Naturelemente, die in allen vier Konzerten auftreten.

Woran dachte der geniale Virtuose wohl bei seiner Komposition, welche Muse küsste ihn?

 

Ich glaube, die Muse, die ihn dazu inspirierte, war tatsächlich eine Frau. Denn in ihr spiegelt sich im Laufe nur eines Monats der Zyklus der vier Jahreszeiten in seiner deutlichsten Form.

Aber nicht nur ein Monatszyklus zeigt uns Frauen auf diese Weise, dass wir Teil der Natur sind.

Der Frühling der Frühlinge, der Sommer der Sommer, der Herbst der Herbste und der Winter der Winter präsentiert sich uns im Laufe einer Schwangerschaft.

Mir war das bis zuletzt nicht bewusst. Ich hatte seit längerem das Gefühl, dass die Einteilung einer Schwangerschaft in die drei Trimester für mich unzureichend war und nicht stimmte. Ich nahm verschiedene Phasen wahr und die Ambivalenz, die diese darstellten. Meine Schwangerschaft war “vielmehr als nur”… Und ich suchte nach dem roten Faden dahinter, nach der Ordnung, dem Logos.

 

Mit dem Besuch einer Freundin kam Licht ins Dunkel.

Sie erzählte mir von ihrer Bibel, dem “bloody brilliant book” Period Power von Maisie Hill.

Meine Freundin fühlte sich wie ich in der Zeit vor ihrer Periode immer emotional höchst sensibel, fast wie ferngesteuert. PMS nennen sie´s. Meist kamen wir uns beide jedes Monat auf´s Neue immer erst dann darauf, woran es lag, wenn die Blutung einsetzte. Doch bis dahin glich diese Phase einem Widerstandskampf, begleitet vom inneren Grundtenor, etwas falsch zu machen, wahnsinning, hysterisch und für diese Welt nicht gemacht zu sein. Und das, obwohl man vor dieser Phase das Gefühl gehabt hatte, endlich einen guten Weg gefunden zu haben, was die Tonlage der inneren Stimmen noch hämischer erscheinen ließ.

 

Maisie Hill, die Autorin des Buches, wird zuweilen als “Womb Whisperer” (Gebärmutterflüsterin) bezeichnet. Die Britin ist ein Quell an Wissen und Erfahrung, wenn es um Themen rund um die Menstruation und Fruchtbarkeit geht. Seit vielen Jahren engagiert sie sich leidenschaftlich für Frauengesundheit und für die Verbreitung von wichtigem “Frauenwissen”.

 

Weil meine kluge und kritische Freundin so begeistert von ihrem Werk und ihrer Arbeit war und mir das Kapitel über Schwangerschaft nahelegte, kaufte auch ich mir ihr Buch und vertiefte mich darin. Es zog mich in den Bann, nicht zuletzt, weil ich mich in der Beschreibung der Phänomene während einer Schwangerschaft völlig wiederfand. So, wie bislang nirgends. Da war er, der rote Faden (im wahrsten Sinne, wenn man von der Periode ausging)!

Es war für mich nicht nur spannend, sondern auch in höchstem Maße beruhigend, dies alles zu lesen, denn es vermittelte mir endlich, dass bei mir und der Wahrnehmung meiner Schwangerschaft alles normal war.

 

Anker L’inverno – Der Winter

Eine Schwangerschaft beginnt mit einem ausgedehnten Winter, der in etwa das ganze erste Trimester andauert. In dieser Zeit lässt unsere Energie schneller nach als gedacht und alles verlangsamt sich (auch die Verdauung). Schon alltägliche Dinge können Frauen übermäßig erschöpfen. Einige leiden dann auch noch unter Übelkeit oder der schwereren Form, der Hypermesis gravidarum (Schwangerschafts-Erbrechen), was nicht nur stark belastet, sondern auch ein hohes Maß an Ruhe und Erholung einfordert. Auch andere belastende Gefühle wie Angst, Wut, Zweifel, Scham können sich verstärkt zeigen.
Der Winter ist die Zeit des Rückzugs, der inneren Einkehr, des Loslassens und des sich nährens. Er fordert uns auf, Grenzen zu setzen, um Energie für die bevorstehenden Jahreszeiten zu sammeln.

La primavera – Der Frühling

Bei Vivaldis Frühling denken vielleicht viele von euch an den letzten Tanz von Bridgerton 1.
Der Frühling der Schwangerschaft beginnt irgendwann am Ende des ersten Trimesters oder – falls noch sehr erschöpft – erst ein paar Wochen später. Er zeigt sich dadurch, dass das Interesse am Leben zurückkehrt: die Lust an Bewegung, sozialen Kontakten und die Libido steigen. Man ist bereit, sich der Welt wieder zuzuwenden und die Schwangerschaft mit anderen zu teilen.
Manchmal können Frauen erst in dieser Zeit an das Kind in ihnen und wieder an andere Menschen denken, weil sie im Winter vollauf mit der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse beschäftigt waren.
Motivation und Energie steigen, auch Hoffnung und Potenzial.

Anker L’estate – Der Sommer

Irgendwann im zweiten Trimester eröffnet sich uns auch der Sommer unserer Schwangerschaft. Es ist der Höhepunkt unserer Energie, unserer geistigen Fitness, unseres Selbstbewusstseins, unserer Libido und des Gefühls, wunderschön zu sein. Man hat Lust, Freunde zu treffen, Spaß zu haben und auch die Energie, viele To Do´s der Liste abzuarbeiten, die man sich vor der Entbindung noch vorgenommen hat. Der Babybauch wird immer sichtbarer, Menschen nehmen einerseits deswegen Rücksicht auf einen, andererseits gibt es auch die Grenzüberschreiter, die ungefragt Ratschläge und Kommentare erteilen und den Babybauch berühren.
Das weitverbreitete Bild der strahlenden, überglücklichen Schwangeren mit ihrem “Pregnancy Glow” ist ein typisches Sommerphänomen. Das ist auch die Zeit, in der man die Schwangere am häufigsten sieht, da sie hier gerne aktiv ist. Man sollte sich doch nicht davon in die Irre führen lassen oder sich schlecht fühlen, wenn man dem nicht (immer) entspricht: Jede Schwangerschaft hat verschiedene Qualitäten, die unsere jeweilige Ausstrahlung wiederspiegelt.

 

Mondzyklus
Mondzyklus

L’autunno – Der Herbst

Der Herbst entspricht den Monatszyklus betrachtet der Zeit vor der Menstruation, was für viele Frauen die herausfordernste Zeit darstellt. Aber natürlich bringt auch dieser Potenzial mit sich.
Der Herbst der Schwangerschaft beginnt in etwa zu Beginn des dritten Trimesters, eventuell auch etwas später.
Die Energie sinkt, der Blutzucker schwankt und auch die Stimmung. Von totaler Erschöpfung über rasende Wut kann sich hier alles zeigen. Starke Gefühle sind wichtige Sensoren, deren Ursache wir nachgehen sollten, statt sie klein zu reden.
 Der Herbst befähigt uns nämlich, Dinge ungeschönt zu betrachten und Oberflächliches verliert an Bedeutung. Zeit, um das eigene Leben unter die Lupe zu nehmen und Entscheidungen zu treffen. Der Herbst birgt das Potenzial, tief steckende Konflikte und Themen anzugehen, bevor das Baby da ist – im eigenen Leben und in Beziehungen. Es ist die Zeit, ehrlich zu kommunizieren und das Umfeld wissen zu lassen, was man braucht und will. Auch, was man nicht braucht und nicht will.
Diese Zeit verlangt, das eigene Tempo zu drosseln, sich selbst achtsam zu begegnen und der Ruhe Einzug zu gewähren. Der sogenannte Nestbau-Trieb tritt hier besonders in Erscheinung. Man möchte ordnen, (aus-)sortieren, reinigen, vorbereiten und noch alle Angelegenheiten regeln, bevor das Kind kommt.

 

L’inverno l´inverno – Der Winter der Winter

Normalerweise läutet die Blutung den Monatswinter ein. Eine Geburt ist wahrscheinlich der tiefste Winter, den eine Frau jemals erlebt hat. Er beginnt entweder bereits Tage oder Wochen vor der Geburt als Zwischenstadium oder der Beginn der Wehen befördert einen in ihn.
Winter, das ist das ultimative Loslassen, sich Öffnen und das Reisen in innere Tiefen. Es ist die Hingabe an etwas Größeres, das Abgeben der Kontrolle. Die Sehnsucht nach Rückzug an einen dunklen, sicheren Ort.
Auch nach der Geburt befindet eine Frau sich noch in ihrem Winter, dementsprechend sollte sie sich auch noch schonen und sich Ruhe gönnen. Die Ruhephasen im Winter sind die unumgängliche Vorbereitung für die produktive Zeit des nächsten Frühlings und Sommers. Nur, wer sich dem Winter hingibt und sich erholt, erhält Energie für die restlichen Jahreszeiten.
Es ist die Zeit, die Zugbrücke hochzuziehen und auf Besuch zu verzichten, auch oder vor allem, wenn man den Druck der neugierigen potentiellen Gäste spürt. Es ist die Zeit, die eigenen Bedürfnisse als frisch gebackene Familie an erste Stelle zu stellen.
Die ersten drei Monate nach der Geburt werden auch als viertes Trimester bezeichnet, denn es ist eine Zeit, in der das Baby den großen Schritt aus der Gebärmutter in die Welt macht und auch die eigene Welt sich verändert. So lange kann auch der Winter andauern. In dieser Zeit ist man sehr sensibel und kann besonders empfindlich auf Kommentare oder die Berührung anderer reagieren.
Entscheidend ist, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten und Grenzen zu setzen. Man sollte sich gut überlegen, wen man in dieser Zeit in seiner Nähe haben möchte.
Etwa drei Monate nach der Geburt steigt die Lust wieder, am Leben teilzunehmen und aus dem Haus zu gehen, die ersten Frühlingsboten erhellen den Weg.

 

Natürlich verläuft nicht jede Schwangerschaft genau gleich, so wie jede Frau ihren Monatszyklus anders wahrnimmt. Wie sich die Jahreszeiten präsentieren, hängt unter anderem davon ab, wie man sich bisher in der Schwangerschaft gefühlt hat und wie viel Unterstützung man hatte. Von besonderer Bedeutung ist auch das eigene Wesen und die Qualität der eigenen Verbundenheit.


Mir persönlich schenkt das Bewusstsein über die Jahreszeiten höchste Freude und Orientierung, da ich mich darin völlig wiederfinde. Möge es noch vielen Frauen helfen, bei sich anzukommen und sich zu verbinden mit dieser magischen Zeit, in der sich der Rhytmus der Natur in uns wiederspiegelt.

 

 

(Dieser Text stammt aus meinen persönlichen Schwangerschaftsaufzeichnungen aus dem Jahre 2022.)