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Vergissdeinnicht

It's not what you look at that matters,

it's what you see.

(David Henry Thoreau)

Als ich diese Woche nach einem anstrengenden Arbeitstag auf unserer Terrasse saß, eine Zigarette in der rechten Hand und in meinen Gedankenkreisen versunken, fing meinen Blick ein Pflänzchen, das noch trauriger wirkte als ich.

Ein paar Wochen zuvor hatte ich es von meiner guten Freundin überreicht bekommen. Üppig stand es damals in seiner Blüte, 

sein wunderschöner, bebeinter Übertopf ließ einen Thron anmuten.

Es handelte sich um ein Vergissmeinnicht, meine Freundin hatte in ihrer verspielt-kreativen Manier ein Vergissdeinnicht daraus gemacht. Sie unterstricht, indem sie sagte: "Schwieriger ist es, auf sich selbst nicht zu vergessen."

Ich liebte das Blümlein vom ersten Moment an. Ich wollte es hegen und pflegen, 

im Sinn hatte ich eine Bekannte, die sich nach einem schweren Burnout ein Pflänzchen auf das Fußgelenk hatte tätowieren lassen. Es sollte sie stets daran erinnern, dass sie sich um sich selbst wie um ein zartes, wertvolles Pflänzchen kümmern wollte: achtsam auf die aktuellen Bedürfnisse und in enger Regelmäßigkeit.

 

Ich hatte versagt und hier auf der Terrasse war der Beweis: So wie die das Vergissdeinnicht von seinen Kräften verlassen schien, 

welk und bräunlich, 

so fühlte auch ich mich.

Ich kann Pflanzen und mich selbst gut bolusartig pflegen. Dann glich es fast einer Überforderung. Als gieße man auf einen zerrissenen Wüstenboden Wasser - er konnte es nicht aufnehmen. Aber achtsam und in enger Regelmäßigkeit?

 

Ich hatte es in meinem Fall durchaus probiert: morgens vor der Arbeit Meditation und Körperübung, zwischendurch achtsame Atemübungen und bewusste Ausrichtung. Aber immer wieder - dann, wenn es am anstrengendsten und energiezerrendsten war- brachte ich mich morgens nicht aus dem Bett, schaute in den Pausen auf's Handy und entfloh der Erschöpfung abends mit Wein.

Oder wie in diesem Moment auf der Terrasse: mit einer Zigarette.

Das Schildchen in der verwelkten Pflanze schien mich zu verhöhnen. 

Und seither lässt es mich nicht mehr los.

Vergissdeinnicht - Was bedeutet das?!

 

Handelt es sich dabei um eine Aufforderung? Um eine liebevolle Erinnerung? Um eine Rätsel? Einen Wegweiser?

Es gesellt sich in meine Gedanken in verschiedenste Zungen. Besserwisserisch, mütterlich, höhnisch, neutral, weise, arrogant, utopisch.

Die Blüten des Vergissdeinnichts nehmen die Farbe meiner Gedanken an.

 

 

Vergissdeinnicht. 

Sofort verbinde ich es mit dem Begriff Selbstfürsorge. Also nicht auf die eigenen Bedürfnisse vergessen, so wie es auch die obige Pflanzenmetapher andeutet.

Aber immer mehr ahne ich, dass dahinter noch viel mehr steckt.

 

Kann "Dein" sich auf das eigene Hab beziehen und dafür stehen, was man bereits "besitzt"? 

Vergissdeinnicht: Vergiss das Deine nicht. Also ein Deut auf Dankbarkeit, aber auch auf das Bewusstsein dafür, auf welcher reichhaltigen Basis man sich befindet. Nicht nur materiell, sondern auch genetisch, sozial und die eigenen Fähigkeiten betreffend.

 

Oder ist es ein Vergissdeinnicht, das uns auf Selbstbewusstsein hinweist?

"Dein" als Synoynm für dein Selbst. Das Selbst, unser tiefstes Sein, das wertvoll und einzigartig ist, ungeachtet unseres psychophysischen Ausdrucks und unserer Taten. Also fast schon eine spirituelle Andeutung: Vergiss dein Selbst nicht.

 

 

Zurzeit bin ich bei dieser Interpretation des Vergissdeinnichts: 

Klage nicht nur an, z.B. das System und andere, sondern vergiss dabei dich/dein nicht - deinen Beitrag. 

Ein Vergissdeinnicht, das mich aus der Reserve lockt und anstiftet, aktiv zu werden. Eins, das erinnert, loszugehen.

Was tust du, damit...?

In Anlehnung an Watzlawick: Passivität ist auch Aktivität.

Mitspielen bedeutet, etwas zu unterstützen.

Dieses Vergissdeinnicht ist mein bisher unangenehmstes, weil unbequemstes.

 

Was auch immer die Botschaft hinter dieser Pflanze ist, 

letztendendes geht es darum, wie sie sich in meinem Leben konkret zeigt. 

Sie kann nur Impulse geben, die Umsetzung obliegt mir. Uns.

 

Auf jeden Fall kann ich auch noch sagen: Ich werde nicht aufhören, mich in Selbstvergessenheit zu üben.

Ein Zustand, der mir nicht minder erstrebenswert erscheint...

 

Arrivederci.

 

PS.: Hörst du noch eine andere Botschaft hinter "Vergissdeinnicht"? Ich freue mich, wenn du das "Schreib mir"-Feld benutzt und mir davon erzählst! 

PPS.: Liebe M.: Es tut mir furchtbar leid, dass ich deine wunderschöne Pflanze nicht lebendig halten konnte!