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Die einzige Konstante

Hermann Hesse meinte einst, "jedem Anfang wohnt ein Zauber inne".

 

Es ist paradox. Mit Beginn des Monats wagte ich, nach einiger Zeit des Regenerierens und der Suche, den Sprung in einen Job. Der Anfang von etwas Neuem. 

Ich stellte mir vor, dass diese Veränderung zugleich etwas Neues einläutete. Die letzten Monate waren trunken vor Innenschau und Reflexion, viel Kopfarbeit, kreisend um die Frage: "Was nun?". Ich ging davon aus, dass jetzt, wo ich die Ärmel hochkrempelte und wieder in den Ring stieg, die Innenarbeit für's Erste ein Ende (oder zumindest eine Pause) nahm und ich am Jetzt Hand anlegen konnte.

Doch mit dem Einläuten der ersten Runde ("Tekken"-geschädigt^^) wurde zugleich ein neuer innerer Prozess eingeläutet: ein Trauerprozess.

 

Vielleicht lag es daran, dass ich die Abschiedsfeier mit "meinem" ehemaligen Team am Wochenende vor meinem Arbeitsbeginn abhielt,

doch erst mit dem Kennenlernen meines zukünftigen Teams und der neuen Arbeitssituation fing ich an, um das Alte, Verlorene zu trauern.

Die vielen Monate vorher, in denen ich Zeit dafür gehabt hätte, realisierte ich nicht/ war es mir nicht bewusst, dass es etwas zu betrauern gab.

Vielleicht fragt sich auch der eine oder andere, warum trauern? Ich war freiwillig & auf Basis guten Überlegens gegangen, hatte es auch bislang nicht bereut. Das letzte Jahr ging es mir im alten Job sehr oft nicht gut.

Aber das tut nichts zur Sache. Es bedeutete Abschied und Verlust.

Verlust von lieb gewonnenen Kollegen, von gewohnten Handgriffen, zelebrierten Kaffeepausen, kleinen Machtkämpfen, Status und einer Identität,...

 

Auch wenn man es nicht wahrhaben möchte, vielfach identifiziert man sich über die Arbeit. Sie ist eine der allergrößten Bühnen im Leben, um sich Identität zu verschaffen.

Als wir im 1. Semester der Logotherapie-Ausbildung angehalten wurden, "Wer bist du?" zu beantworten, kam nach Nennung meines Namens natürlich gleich, wo ich was arbeitete.

Ob beim Einkaufen oder Spazieren, immer wieder begegneten mir Leute, die mich als "die Krankenschwester vom Krankenhaus" kannten und grüßten.

Selbst mein Freund sprach mich vor unserem "besseren Kennenlernen" mit "Schwester Irene" an, weil wir uns ursprünglich im Krankenhaus kennengelernt hatten.

 

Wer war ich nun, nachdem ich gekündigt hatte?

Einfach nur Irene? Häää?

Ist das genug?

 

Rückblickend betrachtet, hat mein Trauerprozess durchaus mit meiner Kündigung begonnen. Die erste Phase, das Nicht-Wahrhaben-Wollen, die Erstarrung und das Nicht-Realisieren dauerte einfach ziemlich lange. Ab und an blitzte die zweite Phase durch: aufbrechende Emotionen wie Wut, Leid, Schmerz, Angst, Traurigkeit.

Richtig bewusst wurde es mir trotzdem erst mit dem Beginn meiner jetztigen Arbeit. Plötzlich war ich in einem Cocktail aus Phase 2 & 3: verschiedenste Gefühle, darunter viel Wehmut, aber auch Dankbarkeit und Freude. Die Schätze aus den 7 Jahren im Krankenhaus wurden geborgen. Vergebungsarbeit geleistet.

Ich glaube, inzwischen schlürfe ich einen Cocktail aus Phase 2,3 und 4: Geschmacklich noch ein Stich Wermutstropfen & doch phasenweise schon sehr genießbar.

Phase 4 bedeutet innere Ruhe und Bezug auf Neues.

 

Vielleicht stößt es so manchen von euch vor den Kopf, die Trauerphasen auf andere Bereiche als den Tod zu beziehen (diese sind doch etwas Heiliges...).

Seit einem Seminar, indem es um Trauer und Abschied ging, ist für mich klar, dass wir die Trauerphasen unser ganzes Leben lang durchnehmen, trainieren.

Unser Leben ist vielmehr von Verlust geprägt als von Stabilität. Von Verlust und folglich Neubeginn.

Unser Körper verabschiedet sich sekundlich von alten Zellen, ca. alle 90 Tage gibt es keine einzige der alten Körperzellen mehr.

Inständig verabschieden wir uns von Momenten, Emotionen, Menschen, Erwartungen, Rollen, Jahreszeiten.

Heraklit sagte bereits vor zweieinhalbtausend Jahren:

"Die einzige Konstante ist die Veränderung."

 

Die Trauerphasen begleiten uns ständig. Natürlich vielfach unbewusst und in sehr abgeschwächter Form.

Je nach Wertigkeit und Seltenheit eines Verlustes durchleben wir sie mal intensiver, mal kaum spürbar.

Sogar um Dinge, bei denen wir froh sind, sie verloren zu haben, trauern wir.

Manchmal lassen wir Vieles zusammenkommen, um dann Mehreres gleichzeitig zu betrauern. Als ob es eine gewisse Menge an "Trauerwasser" braucht, um den Damm wegzuspülen, der es hindert, zu fließen.

So war es bei mir, als 2015 meine Oma verstarb. Ihr Tod aktivierte eine Vielzahl an verabsäumten Traurigkeiten. So vieles durfte damals betrauert und damit losgelassen werden: eine gescheiterte Beziehung, Erwartungen an Freunde, vergeudete Möglichkeiten, ein abgenütztes Selbstbild.

 

Zu trauern bedeutet nicht, etwas festhalten zu wollen. Im Gegenteil! 

Sich auf den Prozess des Trauerns einzulassen bedeutet, sich Stück für Stück dem Loslassen zu öffnen.

Trauern bedeutet, etwas Neuem Platz zu machen.

 

Die Psychologin und Therapeutin Dr. Edith Eger schrieb in ihrem Buch "Ich bin hier, und alles ist jetzt", einer autobiografischen Schilderung ihrer unglaublichen Erfahrungen in KZs und Arbeitslagern, dass kein Verzeihen ohne Wut stattfindet.

Ich glaube, im Trauerprozess geht es letztendlich um dasselbe. Emotionen wie Wut sind unabdingbar, um Frieden zu schließen, um loszulassen...

Einst las ich auch diesen Satz: Verabschieden -egal wovon- kann man sich einzig und allein im Guten oder gar nicht.

 

Damit V. Frankl auch noch zu Wort kommt:

Laut ihm sind "Verlust und Abschied" ein Element der Tragischen Trias, den tragischen 3 Dingen, die Teil jeder Existenz sind.

Sein Lösungsansatz lautet "Verantwortetes Leben". Die Sinn-Antwort auf die Vergänglichkeit der Dinge ist, sich dessen bewusst zu werden & ver-antwort-lich zu leben.

Sich der Dinge bewusst zu werden, so lange sie noch sind, anstatt sich ihrer immer erst im Nachhinein gewahr zu werden. Möglichkeiten nutzen!

 

 

 

Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.

(H.Hesse)

Ja okay, Hesse, du warst schon ein ziemlich guter Poet. Aber jetzt mal ehrlich: ohne Trauern?! ;)