· 

Von Nasen-Rümpf-Szenen & ihren Folgen

Zurzeit werde ich von den überaus warmherzigen, ehrlichen, erstaunlichen & unkonventionellen Zeilen aus Barbara Pachl-Eberharts Buch „Vier minus Drei“ inspiriert.
In ihrem autobiografischen Schriftstück geht es um ihr unfassbares Schicksal, ihren Mann & ihre 2 kleinen Kinder durch einen Verkehrsunfall zu verlieren, & wie sie sich dem stellte.

Abgesehen von diesem erschütternden Kontext, verblüfft mich eines ganz besonders:
Die Ausgefallenheit, Besonderheit, Abweichung, Freiheit, Formeigenheit & Unkonventionalität in der Art des Lebens, wie Barbara es nimmt. Wie abweichend von all den Klischees & ungesagten Gesetzen sie ihr Leben betrachtet und gestaltet! Nicht nur ihr Leben, sondern auch all die Phänomene und Ereignisse, die dieses begleiten & säumen.
Nichts scheint ihr selbstverständlich, nichts langweilig, nichts unmöglich zu sein.
Sie bestaunt das Leben in all seinen Facetten mit großartiger Offenheit,
betrachtet es von allen Seiten, dreht es, schüttelt es, hört in es hinein- selbst dann, wenn es sich dabei um Dinge handelt, die man auf den ersten Blick nicht als angenehm, erfreulich oder schön erachtet.

 

Dabei ist sie selbst auf der Abschiedsfeier bzw. „Seelenfeier“, wie sie sie nennt, ihrer Geliebten nicht davor gefeit, dass Menschen sie dafür richten bzw. ihre Nase rümpfen.
2 ältere Damen tuscheln am Friedhofstor, dass die Art, wie sie sich von ihrem Mann & ihren Kindern verabschieden möchte & wie sie trauert, unpässlich sei. Sie meinen sogar: „Die macht sich´s aber leicht.“

 

Barbara Pachl-Eberhart ist weder dumm, noch naiv, im Gegenteil.
Natürlich registriert sie so etwas & natürlich macht das auch etwas mit ihr. Man stelle sich nur vor, was so ein Gerede in einem solch sensiblen Moment mit einem macht!

 

Als ich von der Dummheit und Naivität dieser 2 älteren Damen las, die sie durch ihre Reaktion bewiesen, durchströmte mich ein Schwall negativer („unpässlicher“) Gefühle ihnen gegenüber: Wut, Zorn, Fassungslosigkeit, Abscheu.
„Wie konnten sie nur?! Was ging sie das an? Wozu sind sie eigentlich gekommen?!“
Ich wünschte mich in die Vergangenheit & an diesen Ort, um Barbara in Schutz zu nehmen & stellvertretend in ihrem Namen „ein Wörtchen“ mit ihnen zu reden.

 

Aber war das wirklich „in Barbaras Namen“?
Nun kenne ich sie in Wirklichkeit nicht, aber ich vermute, bei allem, was ich von ihr gelesen habe, wäre es das nicht.
Es wäre eine konventionelle, vorhersehbare Kurzschlussreaktion.
Vielleicht sollte ich die 2 älteren Damen in ihrem Namen eher schütteln, in sie hinein hören & von allen Seiten betrachten…

 

Auf jeden Fall hat diese Nasen-Rümpf-Szene im Buch auch etwas mit mir gemacht.
Die Angst vor genau solch einer Reaktion lässt uns Leben führen, die sich keinen Millimeter von der Konvention entfernen. Sie lässt uns in Gesellschaftsnormen festfahren, uns fremden Werten nachjagen & uns schämen, wenn wir heimlich & hinter vorgehaltener Hand eigentlich von etwas anderem träumen.
Es macht mich traurig & stocksauer, dass Menschen sich nicht an der Andersartigkeit ihrer Mitmenschen erfreuen, sondern sie dafür verurteilen & imaginär mit dem Finger andeuten, sie sollten gefälligst wieder an ihren alten Platz zurück- mit einem Köpfler retour in den Mainstream.

 

In Anlehnung an meine Psychologie-Lehrerin aus der Pflegeschule frage ich mich:
Was hat das mit mir zutun? Denn: Was einen trifft, betrifft einen…

 

Ertappt!
Natürlich habe auch ich mehr als einmal vor etwas zurückgescheut, nur wegen dieser besagten Angst. Habe mich brav eingereiht, um ja nicht aufzufallen. Mich verstellt, um niemanden zu verschrecken. Habe mir Sehnsüchte aus dem Kopf zu schlagen & mich umzupolen versucht, um keinen aufzuregen.
Ich schäme mich z.B., wenn ich gefragt werde, was ich jetzt vorhätte (als Arbeitslose), nichts Konkretes antworten zu können, & ertappe mich, wie es den Druck in mir auslöst, mir irgendetwas zu suchen.

Es ist leicht, der Gesellschaft dafür die Schuld zu geben. Und bequem.
Leider ist die Zeit vorbei, in der es für mich leicht ist.
Ich habe inzwischen zu viel über Selbstverantwortung gelesen, als dass ich sie noch abschieben könnte.
Nicht zuletzt die Logotherapie weist mich immer wieder darauf hin, dass die vorhandenen Bedingtheiten nur die Steine darstellen, auf denen wir gerufen sind, aufzubauen.
Jede Imitation ist ein Fehlgriff in Bezug auf den Lebenssinn, jedes Verharren und Angekommen-zu-sein-glauben eine Misinterpretation der Art, wie Leben laufen soll.
Allein die letzte Formulierung weist schon auf die Eigenart des Lebens hin- es soll laufen…

 

Heute waren mein Freund und ich wandern.
Wir marschierten in der Phyrn-Priel Region von Almhütte zu Almhütte (insgesamt 3).
Mir war, als galten ab einer gewissen Höhe andere Regeln.
Jeder schien gleichwertig, was kümmerte es hier, „wer“ man unten war?
Die Wirtsleute auf einer Hütte waren oft eigen-artige Menschen. Aussteiger, Eigenbrötler oder sogenannte „Alternative“. Manche redeten übermäßig laut, genossen eine ausgedehnte Zigarettenpause, während jemand auf Bewirtung wartete oder servierten ganz einfach, was noch zu haben war, nicht was bestellt wurde.
Aber das war weder komisch, noch regte man sich darüber auf. Viel eher war es wohltuend und gefragt. Es entschleunigt.

Wer glaubt, in den Bergen herrsche Freiheit, der irrt sich- denn Freiheit herrscht nicht.
In den Bergen ist Freiheit!

Ausblick von der Hofalmhütte
Ausblick von der Hofalmhütte

 

In einem Bergwelten-Artikel las ich, dass jeder Schritt in Richtung Gipfel einen Schritt weiter weg aus dem Tal und den dort verankerten Verpflichtungen führe. Jeder Meter vergrößere den Abstand zu den gewohnten Bahnen des alltäglichen Lebens. Man gehe im wahrsten Sinne des Wortes weg von allen Aufgaben und Verbindlichkeiten, die unser Leben für gewöhnlich strukturieren.
Ich würde dem noch hinzufügen: Man steigt auch Schritt für Schritt aus dem Mainstream-Gedanken, hinauf in eine Welt, in der als einzige Regel gilt, sich gegenseitig zu begrüßen („per Sie“ ist hier niemand) & damit jedem gleichermaßen Achtung zu zollen, ungeachtet seiner Eigen-Art.

 

Keine Bewertung.
Können wir das überhaupt noch?
Können wir Dinge, ungeachtet ihrer Eigenart, bestaunen und lediglich „interessant“ finden, so wie es Frau Pachl-Eberhart zelebriert? Sie hinzufügen in die Schatztruhe, die für „menschliches Erfahren“ gedacht ist,
auch wenn Otto Normalverbraucher sie als wertlos, unnötig oder schlecht einstuft & sie möglichst abstreifen möchte (niemals aufbewahren!)?

 

Bestimmt nicht an einem Tag.
Aber vielleicht zunehmends. Schritt für Schritt (in Richtung Gipfel)...
Auf jeden Fall bedarf es zu allererst einer Entscheidung.
Und dann eines bewussten Handelns danach.
Wie Gandi einst sagte: „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt.“
Meine Sehnsucht nach authentischem, eigen-artigem Leben inkludiert die Aufforderung, andere darin zu bestärken & wert zu schätzen.
Auch, unbewertet zu lassen, wenn mich jemand dafür bewertet.
Aber vor allem, sturen Frohsinn darin zu üben, meine unkonventionellste Version zu leben.

 

„Ohne Unerschrockenheit wirst du die Welt nie in all dem Reichtum erkennen, den zu erkennen sie sich von uns wünscht.“ (Jack Gilbert)

 

 

So, genug des gescheit Daherredens, höchste Zeit anzufangen, auf meinen Bedingtheits-Steinen etwas aufzubauen…


„Zufällig“ bei einer Kirchenbesichtigung am Samstag gelesen:
Wer das Urteil der Menschen fürchtet, gerät in ihre Abhängigkeit; wer dem Herrn vertraut, ist gelassen & sicher.

 

Eigen-artig sein ist wie im Himmel...

https://www.youtube.com/watch?v=u2Vr1ODCUag&pbjreload=10