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Der untreue Genius & das Gewissen

Heute lag ich gemütlich in der Hängematte & blätterte ein Magazin durch, da lockte im rechten Augenwinkel etwas meine  Aufmerksamkeit- eine Spinne zog ihre Bahn Richtung Apfelbaum hinauf. Aber nicht irgendeine Spinne. Eine weiße!
Ich wüsste nicht, dass ich so eine zuvor schon einmal gesehen hätte.
Für mich war klar, Spinnen (bei uns) sind schwarz (oder so was ähnliches). Spinnen sind der Innbegriff der Farbe Schwarz (oder so einer ähnlichen)! Und dann klettert da einfach eine Albino-Spinne! (Die Augen konnte ich leider nicht sehen, aber bestimmt waren sie rot)

 

Das erstaunte mich. „Es gibt wohl nichts, was es nicht gibt“, dachte ich mir.
Ich tat es der Spinne gleich & spann. Ich spann ein fiktives Netz in meinem Kopf, wo ich freudig erwartete, dass sich Beute verhedderte. Ich hatte es auf Gedanken zum Thema „Es gibt wohl nichts, was es nicht gibt“ abgesehen.

 

Wenig später durfte ich schon den ersten Fang begrüßen.
Wenn es nichts gibt, was es nicht gibt, heißt das dann zugleich, dass es schon alles gibt?
Was heißt dieses alles? Nachdem darin das Wort „All“ enthalten ist, & das All für mich unendlich ist, bedeutet alles für mich auch etwas Unendliches, Unerschöpfliches. Und somit kann ja noch gar nicht alles auf der Welt sein, weil dieses alles nie vollständig ist.
So wie man immer glaubt, so modern & fortschrittlich wie jetzt war die Welt noch nie, & da kann ja jetzt nicht mehr viel fehlen, dass der Zenit der Fortschrittlichkeit erreicht ist,
so ähnlich verhält es sich vielleicht mit dem „alles“- nach oben hin sind keine Grenzen gesetzt.

 

Meine Schwester hat u.a. das Motto „Think out of  the box“.
Damit meint sie (bitte korrigiere, falls falsch interpretiert), sich bei ihren Lösungen, ihrem Verhalten, ihren Visionen & allem anderen nicht damit zu begnügen, was es schon gibt, sondern außerhalb des bereits Vorhandenen zu suchen- außerhalb der „Box“. Vielleicht befindet sich nämlich dort eine maßgeschneiderte Wahrheit, die stimmiger für sie ist, als all das, was der Markt bereits zu bieten hat. (Welche Ironie, dass sie für ihr Leben gerne näht: Maßgeschneidertes)

 

Eine neue Beute lenkte mich von meiner Schwester ab. Vor Jahren hatte ich ein Interview mit Ndaba Mandela gelesen, dem Enkel des Freiheitskämpfers Nelson Mandela. Er erzählte von seiner ersten Begegnung mit seinem Großvater. Er war damals 7, sie durften ihn zum ersten Mal im Gefängnis besuchen. Ndaba, dem Fernsehen fremd war, war fasziniert von dem Film, der im Nebenzimmer lief. Darin ging es um eine unsichtbare Bedrohung – das Nichts- die allmählich die Welt verschlang. Sobald etwas verschlungen war, wusste niemand mehr davon. Die Hauptfigur aber hatte eine immer lauter werdende Ahnung, dass Wertvolles nicht (mehr) vorhanden war. Und dass die Welt überhaupt nicht so war, wie sie sein sollte. Er versuchte von da an, die anderen zu überzeugen, dass es da etwas gab, wofür es sich zu kämpfen lohnte, um es in der Welt begrüßen zu dürfen.

 

Wie  maßgeschneidert dieser Film auf das Leben seines Großvaters war, verstand Ndaba erst viel später.
Nelson Mandela glaubte an eine Welt der Versöhnung & des Friedens. Etwas, das bis dahin nicht existierte. Zumindest nicht für die schwarze Bevölkerung.

 

Es gab eine Zeit (& die ist unfassbar wenig lange her), in der es als moralisch galt, Schwarze als Untertanen zu behandeln, mit ihnen zu tun, was man wollte, weil sie als Eigentum galten. Als Objekte, oftmals schlechter behandelt als Tiere.

 

Hätten sich Schwarze (& auch Gott sei Dank manche Weiße) damit begnügt, was vorhanden war, würde dieser grauenhaften Zustand, diese „Moral“, im wahrsten Sinne noch immer herrschen.

 

Woher kam die Vision einer besseren Zukunft, der Eindruck, dass die Welt nicht so war, wie sie sein sollte?
Woher erhält ein Blumensamen unter einer Betondecke die Ahnung, dass über dieser Decke die Sonne scheinen würde, & damit den Antrieb, sich durch diese hindurch zu arbeiten,
um sich an der Sonne vorerst von den Strapazen zu erholen, & später zu erblühen?

 

In der Logotherapie spricht man vom Gewissen. Aber nicht in dem Verständnis, wie wir das Wort Gewissen verwenden (meistens in Kombination mit „schlechtem“).  Das Gewissen ist das Sinn-Organ in uns, auch übersetzt mit dem Wort Ur-Wissen. Das Gewissen flüstert uns zu, worüber zu schweigen unmöglich wäre, weil es so profund, so maßgeblich, für uns ist. Es ist eine Intelligenz, die fernab des Verstandes wirkt. Es ist die eine Stimme, die es alleine gegen all die versammelten anderen Stimmen in uns aufnimmt (Eine gegen Alle).
Sie verlangt für ihre Dienste nicht mehr, als auf sie zu hören. Damit stellen wir die Weichen, dass sie ihren Weg immer schneller zu uns findet.
Laut Frankl hat das Gewissen dazu geführt, dass Menschen für etwas gekämpft haben, was so (noch) nicht da war, wie z.B. der Gleichberechtigung.

 

Etwas Neues ging in mein Netz: Anders als Frankl glaubt Elizabeth Gilbert daran, dass Ideen nicht aus uns selbst stammen.  
Wie einst die Römer, meint sie, außergewöhnlich begabte Personen mit hohem Ideenreichtum sind kein Genie, sondern haben einen Genius.
Ideen schwirren im Kosmos herum. Bist du offen dafür, küsst dich der Genius – du gehst schwanger mit einer Idee. Aber wenn der Genius feststellt, dass du die Sache nicht ernst nimmst, nicht furchtlos genug bist, oder es schleifen lässt, zieht er von dir ab & küsst den/die Nächste(n).
Der Genius steht nicht für Treue. So hat er zum Teil auch mehrere gleichzeitig am Start. Dies erklärt auch, warum dieselbe Idee zu einer bestimmten Zeit mehrere Menschen gleichzeitig haben.
So dürfte es z.B. auch bei der Evolutionstheorie gewesen sein.
Gewonnen hat der, der an die Idee glaubt & sie ernst genug nimmt, um für sie zu kämpfen. Sofort, den „Kairos“ nutzend (bevor jemand anderes zum Patentamt geht).

 

Voraussetzung für den Ideenkuss des Genius ist, dass die Zeit reif ist.
Und zu meinem Bedauern, bestimmen die Reife der Zeit nicht wir.
Der Genius tut´s. 

Oder wird er nur ausgesandt?
Die Vorstellung fände ich ja sehr amüsant, dass eine Höhere Instanz für so eine wichtige Aufgabe ihren besten Mann aussendet, & der verhält sich auf Erden wie ein mehrgleisig fahrender Rosenkavalier – z.T. so uncharmant, dass er dich schwanger sitzen lässt.

 

Zurück zum Thema.
Elizabeth Gilbert war es auch, die da schrieb: Finde Gründe für deine Grenzen, und du darfst sie behalten.
Das bringt einen ganz anderen Wind in die Sache, einen viel aktiveren.
Deine Passivität beschert dir nicht, dass alles so bleibt, wie es ist. Du musst aktiv etwas tun, kreativ sein, um deine Grenzen behalten zu dürfen. Um in der „Box“ zu bleiben.
So oder so musst du Aktivität zeigen. Warum also dann nicht gleich, um Visionen zu verwirklichen, um die Welt reichhaltiger zu machen?

 

Visionen gehören in die Welt getragen!
Wenn ein Baum im Wald umstürzt, & niemand sieht ihn, ist er trotzdem umgestürzt.
Aber wie schade, dass ihn niemand dabei beobachtet hat. Der Anblick seines Sturzes hätte wachrütteln, inspirieren oder demütig werden lassen können.

 

Auch unsere Visionen gehören geteilt. Woran fehlt es, wie soll eine lebenswerte Zukunft aussehen?
Gemeinsam lässt es sich viel leichter gehen, es entsteht eine Dynamik, die Großes bewirken kann.
Geteilte Visionen verbinden. Sie helfen uns zu verstehen, dass wir nicht unabhängig voneinander existieren, sondern zutiefst verbunden sind, wie ein riesiges Mobile.
Verbunden wie ein Spinnennetz, vielleicht sogar das einer weißen Spinne.

 

So, jetzt lass ich all die Beute wieder frei, die sich heute in meinem Netz verfangen hat,
& geh was Gscheites essen. Mahlzeit!

 


Ich suche nicht - ich finde.

Suchen, das ist Ausgehen von alten Beständen

und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem.

 

Finden, das ist das völlig Neue.

Alle Wege sind offen und was gefunden wird,

ist unbekannt.

 

Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer:

Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich

nur jene auf sich nehmen,

die im Ungeborgenen sich geborgen wissen,

die in der Ungewissheit,

in der Führerlosigkeit geführt werden,

die sich vom Ziel ziehen lassen

und nicht selbst das Ziel bestimmen.

Pablo Picasso