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Meisenknödel-Mysterium

Heute ist DIE Nacht!

 

Wir haben in unserem Garten ein Vogelhäuschen. Eigentlich ist es vielmehr eine Vogelvilla – mein Freund hat es zu seinem letzten Geburtstag bekommen, & seither ist er von den gefederten, fliegenden Symbolen der Freiheit gefesselt.
Im Winter stand vor unserer Terassentür im Wohnzimmer schon fix ein Korbsessel & daneben lag eine Kamera bereit. Viele Stunden verbrachte er damit, dort zu sitzen & sie zu beobachten, Fotos zu schießen, um sie anschließend in einen Ordner auf seinem Laptop einzusortieren. Zu seiner Freude bekam er zu Weihnachten auch noch einen „Vogelstimmentrainer“ – eine CD, die dir stundenlang die verschiedenen Laute einzelner Vogelrassen vorspielt. Der Kleiber hatte es ihm besonders angetan. Einerseits, weil er so vielseitig kommunizierte, andererseits, weil er der einzige Vogel war, der kopfüber von Baumstämmen, Masten etc. bergab laufen konnte.

 

Die Vögel erhielten natürlich nur das Beste an Vogelfutter. Und als „Nascherei“ verschiedene Bällchen, für die sogar eine extra Vorrichtung am Vogelhaus angebracht war (eigentlich sind es nur einfache Haken).
Eine Nascherei davon waren die „Meisenknödel“, eine besondere Futterkombination in Knödelform, speziell für die Bedürfnisse von Meisen komponiert.

 

Warum auch immer- die Meisenknödel gingen nicht sonderlich. Vielleicht waren zu wenige Meisen unterwegs? Vielleicht waren sie das Lakritz unter den Vogelnaschereien & schmeckten nur den „besonderen“ unter ihnen.
Auf jeden Fall, bis sie leergegessen waren, dauerte es ewig.
Sie hingen dort im wahrsten Sinne des Wortes den Winter ab, vermutlich gähnend.

 

So saßen wir nun auf einem Vorrat an Meisenknödeln, das Wetter läutete schön langsam das Ende der diesjährigen Vogelvillasaison ein.
Übermütig hängte meine Freund noch einen zusätzlichen Meisenknödel an´s Vogelhaus, hoffend, dass die Meisen doch noch über sie herfallen würden.

 

Es war ein so schön sonniger Tag wie er es heute ist, etwa vor einer Woche.
Ihm fiel sofort auf, dass die Meisenknödelnetzerl nicht mehr am Vogelhaus hingen. Eines davon fand er noch in der Wiese liegend vor, das andere war spurlos verschwunden. Obwohl es ihm komisch vorkam, dachte er sich nicht viel dabei, & hängte das eine einfach wieder auf.

 

Dann der nächste Tag. Nun war auch der andere Meisenknödel weg. Er suchte den ganzen Garten ab, ob nicht zumindest das Netz noch irgendwo zu finden war. Nichts!
Neben dem Gartentisch lag in tausend Scherben zerborsten, eines meiner liebsten gläsernen Windlichter. Der Wind konnte es nicht hinuntergeworfen haben, es war dafür zu schwer & die anderen Windlichter standen unverändert auf ihrem Platz am Tisch.
Ein Tier? Und gab es einen Zusammenhang zwischen den nachts verschwindenden Meisenknödeln & den Glasscherben?

 

Der letzte Meisenknödel & unsere ganze Hoffnung
Der letzte Meisenknödel & unsere ganze Hoffnung

Das Spiel begann!
Tag für Tag drapierte mein Getreuer je ein Meisenknödelnetz  an verschiedenen Stellen im Garten, um mit der Schwierigkeitsstufe der Erreichbarkeit dessen, auf eine Tierart schließen zu können. Es war wie früher „Ochs am Berg“ oder das „Warm-wärmer-kalt“-Spiel.
Während wir nachts seelenruhig im Bett lagen, bewegte sich derweil irgendein Dieb in unserem Garten & klaute den Meisenknödel. Der Dieb arbeitete sehr sauber, hinterließ keine Spuren.
Aber er wusste wahrscheinlich nicht, mit wem er es zu tun hatte- wir waren Columbo-Gelehrte, seine treuesten Schüler.

 

In dieser kniffligen Phase unseres Lebens versuchten wir, wie er zu denken.
Manchmal bildeten wir uns fast ein, wir rochen seinen Zigarrenqualm oder spürten auf der Matratze Eierschalen.

 

War es ein Vogel? Dann musste es ein nachtaktiver sein. Ein Kauz vielleicht?
Brauchte er eine Beilage zu einer Maus? Aber warum erst jetzt im Frühling?
Und ging es vielleicht gar nicht um den Inhalt, sondern um das Netz? Zum Beispiel als Material für ein Nest.
Aber unsere Intuition verwies uns eher auf einen Vierbeiner. Eine Katze bestimmt nicht. Deren Geschmack entsprach keinen Meisenknödeln.
Ein Marder? Ein Fuchs? Eine Ratte? Oder noch schlimmer: eine Maus?!?
(An dieser Stelle muss ich gestehen, dass der Albtraum meiner schrecklichsten Nächte Mäuse sind. Allein schon, wenn ich an sie denke, stehen mir alle Haare zu Berge, & das, obwohl ich in einem älteren Bauernhof aufgewachsen bin, indem ich mir viele Winter nicht nur mit meinen Schwestern ein Zimmer geteilt habe…)

 

Das furchtbarste an der ganzen Geschichte war die Ungewissheit!
Ich versetzte mich in verschiedenste Möglichkeiten, was es schlussendlich sein würde, & die Vorstellung egal welchen Tieres löste in mir bei weitem nicht die Angst aus, wie die Erwartungsangst (außer bei Mäusen, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, sie könnten einen Meisenknödel schleppen- & ich traue ihnen wirklich viel zu!)

 

Und genau das ist die Krux im Leben: Wir peinigen uns, richten uns, verhalten uns aufgrund von Ängsten vor etwas, das in der Zukunft eintreffen könnte.
Die Angst an sich ist ein wertvolles Gefühl, das uns schützen, hinweisen, alarmieren will, wenn uns Gefahr droht. Angemessene Angst ist gesund.

 

Aber die Angst, von der ich hier spreche, & die min. 80 % unserer Ängste ausmacht, ist die sogenannte Erwartungsangst.
Fast das ganze letzte Semester meiner Ausbildung in Logotherapie handelte von dieser Art von Angst, nicht zuletzt, weil sie subtil großes Thema bei so gut wie jedem Hilfesuchenden ist.

 

Wir gestalten unser Leben so, dass wir dem Gefürchteten ja nicht in die Quere kommen.
Es ist, als durchwanderten wir ein Labyrinth auf der Suche nach dem wertvollsten Schatz, den es gibt- uns SELBST- & machen kehrt, sobald sich etwas am Weg befindet, das Angst in uns auslöst, auch wenn wir hinter der Angst schon die Umrisse des Schatzes erahnen können. (Ausnahmen bestätigen die Regel!)

So verpassen wir viele Chancen, die einem Portschlüssel von „Harry Potter & der Feuerkelch“ gleichen, & uns in Windeseile an einen Ort, dem Endziel wesentlich näher, teleportieren könnten.
Wir holen z.B. nie die Matura nach, um das Traumfach zu studieren, weil wir Angst vor Mathematik haben. Oder wir erlernen die Geige nicht, weil wir gehört haben, dass man an der Musikschule bei Vortragsabenden vorspielen „muss“. Oder wir versäumen es ein Menschenleben lang, unseren Eltern zu sagen, dass wir sie lieben, aus Angst vor der eigenen Verletzlichkeit, die damit offenbart wird, & ihrer Reaktion.

 

Aber meistens wissen wir gar nicht genau, wovor wir uns fürchten.
Wovor eigentlich?
Es ist wie beim Rumpelstilzchen – ist die Angst erst mal benannt, verliert sie ihre Macht.
Plötzlich erscheint es lächerlich, sich von so kleinen „Gnollen“ & herumspringenden Kobolden klein halten zu lassen.
Oder wie Simba aus König der Löwen so schön sagt: „Hörst du mich Gefahr, ich lach dir ins Gesicht, hahaha.“

 

Ich glaube, der Quantensprung wird dann vollzogen, wenn uns bewusst wird, was auf dem Spiel steht. Das Leben ist endlich, & so sind es auch alle Chancen.
Es ist ein Irrtum zu glauben, man kann sich alle Angebote des Lebens für später aufheben -  für dann, wenn wir mutiger & selbstbewusster sind.

 

Angst, der wir ausweichen, pfeift seine großen Brüder herbei. Angst wittert deine Furcht & will sich gerade dann mit dir auseinandersetzen, wenn du es am wenigstens möchtest.
 Aber nicht aus Boshaftigkeit, nein.
Sie will dich belehren in den Mysterien des Mutes & der Werte.
Was ist dir wichtig genug, um der Angst ins Auge zu schauen?
Einen Berg aus Angst hochzusteigen, bedeutet, oben angelangt, den traumhaftesten, atemberaubendsten Ausblick deines Lebens genießen zu dürfen, jedes Mal auf´s Neue.
Die Ironie bei der Sache ist, das sich Mut und Selbstbewusstsein (wie oben erwähnt) erst dadurch bilden, dass man einen solchen Berg zu besteigen versucht.

 


Angst wird immer da sein, sie ist ein treuer Begleiter. Aber es macht einen Unterschied, ob sie dein Auto (Amok) fährt, am Beifahrer sitzt & immer mal wieder während der Fahrt die Handbremse anzieht, oder sie sich sicher verstaut in einem Kindersitz auf der Rückbank befindet.
Wie ein kleines Kind wird sie dann und wann um deine Aufmerksamkeit buhlen. Du kannst sie aber vielleicht sogar unterrichten, dies nicht mit Schreikrämpfen zu tun, sondern mit liebenswerten Gesten oder lustigen Witzen.
So und so kannst du ihr a´la Simba „ins Gesicht lachen“.

 

Heute ist DIE Nacht!
Wir wollen unserer Angst einen Namen geben & haben eine Wildkamera besorgt.
Es ist noch genau ein Meisenknödel da. Friedlich baumelt es inzwischen an der Stelle, wo der erste Meisenknödel verschwand- am Vogelhäuschen. Die Wildkamera nur wenige Meter davon auf den Schauplatz ausgerichtet.
Morgen wissen wir´s, es ist unglaublich.
Kurz kam der Gedanke, ob ich´s überhaupt schon wissen will. Das Spiel war zu schön!
Aber es ist Zeit. Morgen ist das Meisenknödel-Mysterium gelöst.
Und in unserem Leben ist wieder Platz für andere Mysterien.


Davon bietet das Leben schließlich genug ;)