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Der Zen-Meister & "Ich"

Heut war ich wieder Laufen im benachbarten Wald & da war er wieder- der Herr im glänzenden 80er-Jahre-Trainingsanzug (vgl. „Block“-Artikel vom 21. März)!
Er war schon dort, als ich meine erste Runde drehte, trainierte diesmal bei Station 9, aber in gleicher Manier: energisch, unfassbar akrobatisch für sein Alter (diesmal machte er sogar Klimmzüge!)  & wieder schien er mich nicht wahrzunehmen, zumindest würdigte er mich keines Blickes.
Ich war aufgeregt. Ich grüßte ihn. Es kam nichts zurück. Ich musste grinsen. Ein Schauder der Vorfreude auf die alte Dame lief über meinen Rücken. Das Yin fehlte noch in diesem Wald.

 

Nach ein paar Runden schlich sich die Ahnung ein, die alte Kräuterdame würde vielleicht doch nicht auftauchen. Ich war enttäuscht. Ich sehnte mich nach dem Zauber von damals, wünschte mir eine Auffrischung der damaligen Gefühle – diesem verrückten Cocktail aus Erregung, Amüsement, Basorexie* & Hiraeth*.

 

Das Yin fehlte doch noch!
Ich ertappte mich dabei, die Situation unbewusst ausgleichen zu wollen. Da der besagte Herr wie wild seinen Körper trainierte, erwog ich, das Laufen bleiben zu lassen & stattdessen im Wald herumzuspazieren, die Frühlingserscheinungen näher zu inspizieren & vielleicht Brennnesseln für ein Gründonnerstagsmahl zu sammeln.
Das war grundsätzlich nichts Schlechtes, & es sind Aktivitäten, die ich durchaus auch gerne mache.
Aber es war nicht das, was ich in diesem Moment wollte.

 

Es irritierte mich deshalb, weil mir diese Angewohnheit in letzter Zeit oft an mir aufgefallen ist:
Die eigene Einstellung oder die eigenen Gefühle stellen sich auf das Gegenüber ein (Aaahhh! Einstellung stellt sich ein!). Und zwar nicht, indem sie sich anpassen, sondern indem sie eine Einseitigkeit oder Übermäßigkeit (bin mit meinen Forschungen noch nicht ganz am Ende) auszugleichen versuchen.
Als Beispiel: Gegenüber redet nur von den positiven Seiten aller Dinge- automatisch muss ich negative erwähnen.
Oder jemand äußert starken Frust- auch wenn ich vielleicht vorher selber ein ähnliches Gefühl hatte,  nehme ich plötzlich die Gegenseite ein & empfinde seltsame Zufriedenheit.
Oder jemand „ganz Feines, Zartes“ sitzt am selben Tisch. Mit Sicherheit kann ich irgendwann nicht mehr anders, & gebe irgendeinen primitiven Schmäh von mir.

 

Das Ausgleichsprinzip erkenne ich auch bei Familien bzw. Geschwistern: es kommen nie zwei vom „selben Schlag“ hintereinander. Ist das eine Kind fordernder, rebellischer in seinem Wesen, wird das nächste bestimmt ruhiger & folgsamer (Angaben ohne Gewähr).
Und auch wenn viele familienfremde Personen behaupten, alle Kinder der Familie „sind sich so gleich“ (ich werde meistens mit „Martina“ oder „Franzi“ angesprochen), familienintern weiß man genau, wie unterschiedlich man ist.
Das sind natürlich nur meine Beobachtungen, aber bei 10 Kindern hat man zumindest ansatzweise das Mengenangebot, um Algorithmus-Forschung zu betreiben. ;-)

 

Einen Ausgleich zu schaffen, ist natürlich weder gut noch schlecht, wandeln sich ja so manchmal auch Gefühle & Einstellungen in angenehmere Formate. Aber das Problem, das ich damit habe, ist der enge Freiheitsraum, den man dabei hat. Und Freiheit ist so ein Thema bei mir…

Und ist das überhaupt authentisch? Da hab ich eigentlich eine bestimmte Meinung, wenn aber jemand anderer diese extravagant vertritt, nehme ich plötzlich die gegenteilige ein?
Außerdem: Haben andere auch diese Neigung? Versuchen sie mich dann auch manchmal von etwas zu überzeugen, das sie selbst so eigentlich gar nicht glauben? Das übliche "Age..."?
Solche Hundianer! :D

 

Dann dachte ich weiter. Ist das wirklich immer so?
Nein, das kann nicht sein. Dann wäre ich ja nie einer Meinung oder auf einer Gefühlswelle mit anderen. Und das hab ich definitiv schon erlebt!

 

Aber welche Instanz in uns bewirkt dieses Phänomen überhaupt & wann? Ist es das Ego, das am liebsten recht hat, oder aber ist es eine höhere Kraft, die auf uns einwirkt, um Balance zu schaffen?
Jetzt könnte man sagen, das betrifft ja nur mich, weil ich in meiner Radix-Zeichnung den Mond in der Waage habe.
Aber das wäre schon ziemlich weit hergeholt, außerdem meine ich sehr wohl, diese „Marotte“ auch schon bei anderen beobachtet zu haben…

Vielleicht kann man erahnen, woher diese Neigung kommt, wenn man zu gegebener Zeit in sich selbst hinein hört- Was ist der Grundtenor dahinter? Will ich gerade jemanden belehren, berichtigen. Ja, auch das kommt vor.
Oder passiert es intuitiv, & wird begleitet von einem Gefühl des inneren Friedens &  der Erkenntnis? Auch das kommt vor. ;-)

 

Irgendwann reichte mir das Gedankenkarussell.

 

Nach der 4. Laufrunde im Fitnesswald war meine Trotzmacht, wie Viktor Frankl sie so schön nannte, plötzlich auf eine stattliche Größe herangewachsen.
„Ich darf frei entscheiden, was ich verkörpern will“, sagte ich mir energisch. Das, was in diesem Wald hauptsächlich fehlte, war nicht Yin, sondern Ich!

 

Mein Laufschritt wurde kräftiger, selbst-bewusst lief ich, um dem älteren Herrn zu demonstrieren, dass ICH jetzt endlich da war. Nahm er mich deshalb nie richtig wahr?!

 

Als ich ihn endlich passierte, schaute er mir in die Augen & sagte galant „Feirambd“, hob eine Art eisernen Rechen vom Boden hoch, & schlenderte damit leichtfüßig  in Richtung Waldausgang.
Benutzte er den Wald etwa als Zen-Garten??

 

Ich lief die Runde als „Ich“ noch fertig, genoss es, alleine im Wald zu sein, kein Potenzial zum Ausgleichen vorzufinden,
& fuhr anschließend genauso verwundert & breitgrinsend wie am 21. März mit dem Rad heim.
Der Gefühlscocktail – er war wieder da! :D

 


Ps: Im Nachhinein ist mir ein Bereich eingefallen, in dem ich mir das Ausgleichsprinzip bewusst (& damit frei) gerne zunutze mache:
Wenn ich vor einer Situation Angst habe, mich der Gedanke daran schon ziemlich nervös macht, dann stelle ich mir manchmal vor, ich hätte meine 2 kleinen Schwestern (in Kleinkindformat) mit, & sie würden sich sehr fürchten. Automatisch möchte ich ihnen zeigen, dass sie sich vor nichts zu fürchten brauchen, dass alles gut ist.

Dieser "Große-Schwester-Trick" hat mir schon oft Mut & Souveränität verliehen.


[Wenn meine ehemalige Chefin gewusst hätte, dass ich beim Kündigungsgespräch meine imaginären Schwestern an der Hand gehalten habe, hätte ich wahrscheinlich gar nicht selbst kündigen brauchen... :D]