· 

Ein weiser alter Mann

Einer meiner Musikerkollegen erzählte mir einmal zu späterer Stunde im Wirtshaus, er wünsche sich, ein ganz weiser alter Mann zu werden.

Ich hab damals verabsäumt, ihn zu fragen, was „weise“ für ihn bedeute. Vielleicht glaubte ich noch, Adjektive seien in Stein gemeißelt & es gäbe einfach eine allgemein gültige Antwort darauf, die man zu wissen hatte.

Der Duden z.B. weiß genau, was „Weisheit“ bedeutet: „auf Lebenserfahrung, Reife [Gelehrsamkeit] und Distanz gegenüber den Dingen beruhende, einsichtsvolle Klugheit“

 

Im Logotherapie-Lehrgang, den ich besuche, habe ich manchmal das Gefühl, gar nichts zu wissen.

Meine Kurskollegen können auf einen Wissensschatz zurückgreifen & zitieren, dass ich manchmal nur so mit den Ohren schlackere.

Eine nette Stimme in mir versucht mir dann häufig gut zuzureden: „du weißt dafür anderes“. Ich reagiere auf diese innere Stimme üblicherweise mit einem höflichen Lächeln (den guten Willen achtend), verweile aber insgeheim ungläubig in meiner Ehrfurcht.

Unlängst schilderte ich diese Bedenken unserem Kursleiter. Er lächelte sanft & sagte nur: „Zwischen Wissen und Weisheit ist ein großer Unterschied“.

Das klang weise.

 

Was bedeutete es, weise zu sein?

Ich wusste nur, das Wort mit „a“ statt „e“ gönnte ich niemandem.

Natürlich war da ein Gefühl zum Wort. Einen weisen Menschen erkannte man einfach.

Aber ein weiser Mensch schien sich nicht zu erkennen. Zumindest hatte ich noch nie aus einem weisen Mund gehört, er wäre weise.

Frankl meinte einst: „Das gesunde Auge sieht sich nicht. Nur das kranke Auge sieht sich selbst.“

Hieße das, ein Mensch, der von sich behauptet, weise zu sein, ist es mal definitiv nicht? Den kann man in die Schublade „unweise“ einsortieren?

 

auf der Suche nach der inneren Weisheit
auf der Suche nach der inneren Weisheit

In der Numerologie teilen sich "Weisheit" und "Dienen" eine Zahl- die 9.

Gehören diese beiden Begriffe vielleicht zusammen? Dienen weise Menschen?

Auch das Wort "Therapeut" bedeutet in seinem Ursprung "der Diener" (griech. therapeia) & das waren früher stets ausgewählte, weise Menschen.

Wem oder was dienten sie? Natürlich einerseits den Menschen, die sie "therapierten", aber ich denke, nur stellvertretend für etwas oder jemand Größeres. Womöglich dienten sie dem Gemeinwohl, einem übergeordneten Sinn oder Gott.

Hierbei lag wohl die Weisheit darin zu verstehen, dass "Dienen" keineswegs nur ein zu Kreuze kriechen für andere war, sondern ein nobles, ehrwürdiges und freies Fungieren als verlängerter Arm eines höheren Sinnes.

 

Kürzlich traf ich den anfangs erwähnten Musikerkollegen wieder auf einem Gartenkonzert (coronabedingt sieht man sich momentan sehr selten) & der laue Abend verlangte, zur Nacht zu werden. Bei einem Gläschen Most traute ich mich, meine verabsäumte Frage nachzuholen.

Ich erkannte, dass er über meine Frage, was „weise sein“ für ihn bedeutete, nicht überrascht war. Als hätte er nur so darauf gewartet, gefragt zu werden. Aber er war deswegen auch nicht vorbereitet, er nutzte stattdessen die Zeit & den Raum, um laut darüber nachzudenken.

 

Wo ich früher an objektive Wahrheiten glaubte, interessieren mich heute subjektive viel mehr. Die Bandbreite an individuellen Erklärungen auf ein und dieselbe Frage erstaunt mich, und interessiert mich deshalb so sehr, weil sie vieles über den Menschen hinter der jeweiligen Antwort erzählt.

 

Die Antwort meines Musikerkollegen lautete in etwa, jemand sei weise für ihn, der in seinem Leben viel dazugelernt hätte, v.a. in Bezug auf die Wertigkeiten verschiedener Dinge, und der eine große Gelassenheit mit sich brächte.

Wieder hatte ich etwas verabsäumt. Nämlich, ihm zu sagen, dass er für mich anhand dieser Definition bereits weise sei. Das waren alles Dinge, die er für mich fast immer (Ausnahmen bestätigen die Regel) verkörperte.

Kommt Zeit, kommt bestimmt die nächste Gelegenheit, das Verabsäumte nachzuholen. Runde 3. :D

 

Vielleicht war in uns schon angelegt, was wir als Wunsch an uns hegen & in seinem Fall, als weise erachten? Vielleicht imponieren uns Eigenschaften an Menschen, die wir tief in uns selbst bereits sind?

So wie E. Gilbert mal schrieb:

Ich glaube, dass dies einer der ältesten & großzügigsten Streiche ist, den das Universum uns Menschen spielt, sowohl zu seinem eigenen, als auch zu unserem Vergnügen: Tief in uns allen versteckt es unbekannte Edelsteine & tritt dann einen Schritt zurück & verfolgt, ob wir sie finden.

 

Vorgestern hatte mein Freund ein paar seiner Freunde zu Besuch (& gefühlt bereits auch meine Freunde).

Mit einer Freundin ergab sich ein Gespräch über Persönlichkeitsstörungen, v.a. über Narzissmus & auto-aggressive Persönlichkeitsstrukturen.  Sie arbeitet seit einer Weile in eigener Praxis als Psychotherapeutin & erzählte, wie bereichernd sie ihre Arbeit mit Menschen empfand, & wie demütig sie mit den Jahren geworden sei.

Sie fand die Arbeit mit Menschen mit Persönlichkeitsstörungen nicht schwierig (durchaus herausfordernd), sie begegnete "einfach" allen Klienten gleich: mit tiefstem Verständnis ihrer Geschichte und ihrer Beweggründe. Ihr sei wichtig, die Menschen wahrlich zu sehen.

 

Ich zerschmolz in ihren Worten.

Und mit diesem Gespräch kam ich meiner eigenen Definition von Weisheit ein ganzes Stück näher.

Für mich sind jene Menschen weise, die durch das Erleben ihrer eigenen Geschichte immer mehr Mitgefühl anderen, aber auch sich selbst gegenüber dazugewonnen haben. Jene, die sich in tiefem Verständnis dessen üben, dass Menschsein VerschiedenheitFehlerhaftigkeit & Evolution bedeutet.

Menschen, die mitfühlend gelten lassen.

Urteilen, Ratschläge erteilen und Recht haben wollen bedeutet für mich nicht Weisheit. Weise Menschen füllen nicht jeden Raum, indem sie Weisheiten erzählen. Sie geben Raum & schätzen die stillen Momente, die im Miteinander entstehen.

Für mich kommt Weisheit wirklich aus dem Herzen. Herzensweisheit.

 

Ich glaube, ich möchte auch einmal eine weise, alte Frau werden.

 

 


Eine großartige Wegbereiterin der weiblichen Kraft schrieb mir zum Geburtstag folgenden Text von Jehuda Amichai:

 

Der Ort, an dem wir Recht haben

 

An dem Ort, wo wir Recht haben, werden niemals Blumen im Frühling sprießen.

Der Ort, an dem wir Recht haben, ist hart und niedergetrampelt wie ein Lagerplatz.

Doch Zweifel und Liebe graben die Welt auf wie ein Maulwurf, ein Pflug.

Und ein Flüstern wird man hören an dem Ort, wo das ruinierte Haus einst stand.

 

 


Als dieses Lied gestern im Autoradio kam, dachte ich mir, weise Menschen spüren die Liebe bis in die Zechenspitzen...